Süddeutsche Zeitung

Australian Open:Noch weit entfernt von einem Debakel

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Keine deutsche Tennisspielerin schaffte es in Runde drei, Alexander Zverev schied im Viertelfinale aus - die Perspektiven im deutschen Tennis könnten sich verschieben.

Kommentar von Barbara Klimke

Zu den tollsten Tennismatches in Melbourne gehört ein Duell, das als "Schlacht der Schnurrbärte" Berühmtheit erlangte. Die Australian Open wurden noch auf Rasenplätzen im Stadtviertel Kooyong ausgespielt, und das Finale 1976 war eine windige Angelegenheit. Auf der einen Seite: John Newcombe, ein Mann im weißen Shirt und mit Walross-Schnauzer. Auf der anderen Seite: Mark Edmondson, ein Mann im gelben Shirt mit Walross-Schnauzer. Edmondson, 21, war damals nahezu unbekannt: ein Tennisreisender, der mühsam das Geld für die Tour zusammenkratzte und nach dem Halbfinale mit der Straßenbahn zu seiner Schlafstätte fuhr. In den Wochen vor den Australian Open hatte er als Fensterputzer gejobbt. Der Tag war "heiß wie die Hölle", erzählte er später, mitten im Match kam ein Sturm auf, das Spiel wurde kurz unterbrochen, und als die Bälle wieder flogen, hatte der Wind gedreht: Edmondson, die Nummer 212 der Weltrangliste, schlug den Titelverteidiger in vier Sätzen. Bei der Siegerehrung war er so perplex, dass er den Pokal fallen ließ.

Was die Schnurrbart-Schlacht über das heutige Profitennis aussagt? Mehr als genug. Denn Edmondson ist der letzte männliche Australier, der die Australian Open gewann. Bei den Frauen liegt der letzte Heimsieg von Chris O'Neil (1978) auch schon 43 Jahre zurück.

Tennis ist ein Sport, bei dem auf dem Platz Schlagwinkel oder Ballspin entscheiden. Aber wenn nationale Turnierbilanzen erstellt werden, ist immer auch die historische Perspektive maßgeblich. Aus deutscher Sicht zum Beispiel wurde bei den diesjährigen Australian Open, die an diesem Sonntag enden, früh ein vermeintliches Frauen-Debakel beklagt. Schon die dritte Runde im Melbourne Park, wo heute nicht Rasen, sondern blauer Hartplatz ausliegt, fand ohne eine Vertreterin des Deutschen Tennis Bundes (DTB) statt. Ein derart alarmierendes Loch im Tableau war bei Grand-Slam-Turnieren seit den French Open 2010 nicht mehr aufgerissen.

Jeder Sieg, jede Niederlage hat in einem Einzelsport wie Tennis eine eigene Geschichte

Allerdings schwang immerhin eine dreimalige Grand-Slam-Siegerin in Melbourne den Schläger: Angelique Kerber, vor fünf Jahren Champion bei diesem Turnier. Nun trat sie aus einer 14-tägigen Quarantäne auf den Platz, und nach dem harten Stubenarrest ohne Freigang fehlte ihr die Form. Jeder Sieg, jede Niederlage hat ein eigenes Narrativ, wie man am Beispiel von Mark Edmondsons kuriosem Windspiel sieht.

Was das Männertennis betrifft, so war der letzte deutsche Australian-Open-Sieger auf der anderen Hälfte der Erdkugel in einem Fernsehstudio zu finden: Boris Becker, Champion 1991 und 1996, kommentierte wegen der Pandemie diesmal nicht aus Melbourne, sondern aus München-Unterföhring für Eurosport. Alexander Zverev, erster Kandidat für die Becker-Nachfolge, verlor im Viertelfinale gegen den achtmaligen Turniersieger Novak Djokovic, aber immerhin hatte er sich im Herbst schon in New York bis ins US-Open-Finale durchgeschlagen.

Tatsächlich könnte sich hierzulande der Blick künftig eher auf den Flug der Bälle bei den Männern richten. Denn im Frauentennis rückt der Abschied einer Goldenen Generation näher: Angelique Kerber, Mona Barthel, Andrea Petkovic und Laura Siegemund haben die Schwelle zum vierten Lebensjahrzehnt überschritten; Julia Görges, Halbfinalistin 2018 in Wimbledon, trat bereits ab. Die größten Erfolge waren jüngst übrigens im Doppel zu erleben: Sowohl Laura Siegemund (US Open) als auch Kevin Krawietz/Andreas Mies (French Open) haben 2020 Grand-Slam-Pokale in den Tennishimmel gestemmt.

Von einem Debakel ist das alles noch weit entfernt. Und der Fairness halber ist zu ergänzen, dass auch die Tennisnation Australien seit 1978 große Triumphe feiern konnte - durch Pat Cash, Lleyton Hewitt, Patrick Rafter und zuletzt 2019 Ashleigh Barty in Paris. Nur auf dem eigenen Kontinent ist Mark Edmondson ohne Nachahmer geblieben. Er hat danach noch fünf Grand-Slam-Titel im Doppel gewonnen. Und den markanten Schnauzer nie abrasiert. Nur ist der heute weiß.

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