Süddeutsche Zeitung

Juventus Turin auf Abstiegsplatz:170 Millionen geparkt auf der Ersatzbank

Lesezeit: 4 min

Vier Ligaspiele ohne Sieg, Tabellenplatz 18: Juve beklagt ohne Ronaldo einen historisch schlechten Saisonstart. Der frühere Meistertrainer Allegri ist in der Bredouille - und setzt die jungen Hoffnungsträger auf die Bank.

Von Oliver Meiler, Rom

Er war als Retter zurückgekehrt, triumphal und auch ein bisschen triumphierend, nach zwei Jahren Urlaub und vielen abgelehnten Jobangeboten. Es hieß von Massimiliano Allegri, 54, er werde das verwirrte Juventus Turin mit seiner schieren Anwesenheit und mit einigen klaren Ansagen wieder zurechtbiegen - wer, wenn nicht er, der pragmatische "Max", der Meistertrainer und Feldherr?

Der Toskaner Allegri kennt das Ambiente in Turin, er coachte Juve schon einmal, von 2014 bis 2019. Es gab in jener Zeit fünf italienische Meistertitel in Serie, erspielt mit einem meist zynischen, aber unerhört solidem Fußball. Zwei Mal war Allegris Juve auch nahe dran am Henkelpott der Champions League. Mochte der "Allegrismo" auch nicht ganz so fröhlich gewesen sein, wie es sein Name suggeriert: Er garantierte Punkte, Titel, Glorie.

Und nun? Ist zumindest der Traum der Urplötzlichkeit von Allegris Aura schon mal wacker zerzaust. Nach vier Spieltagen steht Juventus in der Serie A auf dem 18. Platz, dem drittletzten, mit zwei Punkten. Dahinter kommen nur noch das punktgleiche Cagliari und der punktelose Aufsteiger Salernitana. So schlecht war "Madama", wie man den großen Verein auch nennt, seit 1961 nicht mehr in eine Saison gestartet. Seit 60 Jahren also.

"Verdammt Scheiße! Und die wollen für Juventus spielen ..."

Nicht auszudenken, was los wäre in der großen weiten Welt der verwöhnten Juventini, der über das ganze Land verteilten Fans, wenn das Team jetzt auch im Mittwochs-Spiel gegen La Spezia nicht gewinnen würde. Tabellenführer Neapel, der am Montagabend auch sein viertes Saisonspiel in Udine locker 4:0 gewann, ist den Turinern bereits zehn Punkte entrückt. Ein Hauch von Vorentscheidung also, im Spätsommer schon? Trotz Allegri, dem Ergebnisfetischisten?

In den sozialen Medien zirkuliert ein Video, das den zurückgekehrten Trainer am Sonntag nach dem 1:1-Unentschieden gegen den AC Mailand beim Verlassen des Spielfelds zeigt, aufgenommen von einem Fan: "Verdammte Scheiße", hört man Allegri sagen, "und die wollen für Juventus spielen..." Gemeint waren einige seiner Spieler, die nicht auf der Höhe seiner Erwartungen und des Standings des Vereins gewesen sein sollen - einer im Besonderen, ein italienischer Halbheiliger und Himmelsstürmer seit der gewonnenen EM: Federico Chiesa, rechter Flügel der Azzurri.

Chiesa, 23, war gegen Milan erst zum Schluss eingewechselt worden und soll sich dann nicht genug angestrengt haben. Jedenfalls nicht so, wie man das von einem Angestellten der Juve erwarten darf, verdammte Sch ...!. Später, bei der Pressekonferenz, sagte Allegri, er selbst habe das Spiel vercoacht: "Die Auswechslungen waren falsch." Doch was sich zunächst wie ein mea culpa anhörte und ohnehin nicht sein Genre ist, war im Grunde eine doppelt nachgereichte Watsch'n für die eingewechselten Spieler.

In Form von De Ligt, Chiesa und Kulusevski sitzen 170 Millionen Euro auf der Bank

Allegri ist bekannt dafür, dass er Jungstars piesackt und gerne mal übergeht, damit sie lernen, wie schwer Hierarchie und Tradition wiegen. Auch der holländische Innenverteidiger Matthijs De Ligt, 22, und die schwedische Offensivkraft Dejan Kulusevski, 21, spielen bisher keine sehr prominente Rolle im Denken Allegris. De Ligt war 2019 für 85 Millionen Euro Ablöse und ein Jahressalär von zwölf Millionen von Ajax Amsterdam zu Juve gekommen, als "Topplayer", wie die Italiener solche Herrschaften nennen. Auch die Dienste von Kulusevski und Chiesa kosteten eine Menge Geld. Alle drei zusammen: 170 Millionen, geparkt auf der Ersatzbank. Der gesamte Marktwert von Allegris Startelf gegen Milan lag deutlich unter jenem auf der Bank.

Der Trainer spielt nun mal lieber mit Bewährtem als mit dem Kick der Zukunft, und das ist ein Problem. Denn Juve hat in den vergangenen Jahren viel Geld in die Auffrischung seines Kaders investiert. Zuletzt holte man auch noch Manuel Locatelli von Sassuolo, den der Ruf eines "neuen Marco Tardelli" umschwirrt. Und Moise Kean, der entflogene Stürmer aus dem eigenen Nachwuchs, kam nach Wanderjahren in England (Everton) und Frankreich (Paris Saint-Germain) zurück. "Futures", würde man an der Börse sagen.

Allegri scheint damit aber noch nicht viel anfangen zu können - oder zu wollen. Gegen Milan spielten acht Akteure, die er schon aus seiner früheren Zeit in Turin kannte, Durchschnittsalter: etwa 30. Und der Älteste von allen, Giorgio Chiellini, 37, gehörte sogar zu den Besten. Das Juve-Team wirkt mental bereits ausgepowert, und die körperlichen Kräfte reichen höchstens für 45 Minuten, manchmal knapp für eine Stunde. Dann zieht man sich zurück, verschiebt das Baryzentrum des Spiels weit in die eigene Hälfte, der Ballbesitz sinkt unter 40 Prozent - und die Punkte fliegen weg. Sieben insgesamt gingen bereits verloren nach der Pause. Mal patzt der Torhüter, mal schläft die Abwehr.

Kein Pirlo, kein Pogba, kein Vidal - die Problemzone ist das Mittelfeld

Das kennt man sonst nicht so von Juve. In den vier Meisterschaftsspielen gelang kein einziges Tor in der zweiten Halbzeit. Die Gazzetta dello Sport vermutet, Allegri sei vielleicht zu lange weg gewesen, mit der Umstellung auf fünf erlaubte Wechsel pro Spiel sei er noch überfordert. Von allen Trainern der großen Vereine Italiens nützt er die neuen Möglichkeiten am wenigsten. Null Tore in vier zweiten Halbzeiten - das belegt diese These recht plausibel.

Dabei galt Allegri mal als Coach mit Zauberhand: immer eine Karte im Ärmel, ein Tor im Hut. Dennoch trauert niemand Cristiano Ronaldo nach, der Weggang des Weltfußballers zu Manchester United war nach ein paar Tagen abgehakt. Man konnte sich den Portugiesen ohnehin nicht mehr leisten, gerade wies Juventus nämlich ein Rekordminus aus: 210 Millionen Euro verlor man in der vergangenen Saison. CR7 allein stand mit 87 Millionen pro Jahr zu Buche. Natürlich ist das keine faire Rechnung, Ronaldo brachte auch viele Einnahmen. Doch die Buchhalter sehen nun vor allem den getilgten, roten Betrag.

Der Sturm scheint auch nicht das primäre Problem der Turiner zu sein. Der Argentinier Paulo Dybala, den sie in der Heimat und in Italien "la joya" nennen, das Juwel, und der Spanier Alvaro Morata kombinieren schon ganz ansehnlich. Wenn Chiesa dann mal Allegris Züchtigung überstanden haben wird, könnte da eine Zirkustruppe wachsen mit schönen Nummern und vielen Toren. Juve leidet allerdings seit einigen Jahren vor allem am dünnen Mittelfeld: Es ist weder wirklich ein Damm für hinten noch eine Ideenfabrik nach vorne. Adrien Rabiot, Rodrigo Bentancur, Aaron Ramsey - das ist kein Casting für große Vorhaben. "Ich habe ein schiefes Mittelfeld", sagte Allegri neulich, da schwang ein Vorwurf an die Mannschaftsbauer in der Vereinsleitung mit. Meister wurde er früher mit Zentralspielern wie Andrea Pirlo, Paul Pogba und Arturo Vidal.

Als Juve im Sommer Allegri holte, als Nachfolger des unglücklichen Trainernovizen Pirlo, war man so verzweifelt über den vierten Platz aus der Vorsaison, dass man dem Rückkehrer einen tollen Vertrag anbot. Dauer: vier Jahre. Jahreslohn: sieben Millionen Euro, netto. Und viel Mitspracherecht, ein bisschen wie ein Trainermanager in England. Damit Allegri den Laden sofort herumreißt, über Nacht. Nun ja.

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