Süddeutsche Zeitung

Misstrauensvotum gegen Brandt 1972:Ein Bösewicht in Bonn

Lesezeit: 3 min

Hartmut Palmer, Reporter und Zeitzeuge, hat einen Doku-Krimi über die Causa Brandt/Barzel vor 50 Jahren geschrieben. Darin dokumentiert er, so gut es geht, eine ganz eigene Theorie über den "Verrat am Rhein".

Von Michael Frank

Es gab einst im deutschen Fernsehen eine verqualmte, hochpopuläre Sonntagvormittagssendung, die hieß "Der Internationale Frühschoppen", wo man manch brisantes Thema mit Journalisten aus aller Herren Länder verhandelte (sie fristet noch heute als "Presseclub" ein Schattendasein ihrer selbst). Hartmut Palmer, damals Reporter der Süddeutschen Zeitung und Autor des Buches, um das es hier geht, wurde dazu eingeladen, weil ihn Franz Josef Strauß, der Kraftprotz und damalige oberste Brüllaffe der CSU, einen "Gangsterjournalisten" genannt hatte. Danach befragt meinte Palmer: Eigentlich habe Strauß ja völlig recht, denn ein Politikjournalist schreibe über Politik, ein Kulturjournalist über Kultur und ein Gangsterjournalist eben über Gangster.

Auch in Kenntnis ihrer Spalten und Klüfte hätte sich Palmer nicht träumen lassen, dass er Jahrzehnte später noch ganz andere Abgründe der politischen Figur Strauß ausloten würde. Und welch Prophetie, hat der einstige Gangsterjournalist dies doch in einem Kriminalroman angelegt. "Verrat am Rhein" ist eine Agenten- und Räuberpistole, deren Kern den Rang einer ernsthaften Dokumentation verdient, und zwar über Umstände, Hergang und Motive einer kolossalen Affäre: des gescheiterten konstruktiven Misstrauensvotums gegen Bundeskanzler Willy Brandt im April 1972, also vor 50 Jahren.

Strauß und Barzel mochten einander eher nicht

Es ging um Brandts, um Westdeutschlands damals neue, unerhörte Entspannungspolitik dem deutschen und geopolitischen Osten gegenüber, die heute unumstritten als Grundlage des "Wandels durch Annäherung", von Jahrzehnten des Friedens im Kalten Krieg und letztlich der wiedererlangten deutschen Einheit gilt. Die CDU/CSU unter Oppositionsführer Rainer Barzel hoffte damals, die sozialliberale Koalition darüber zu Fall zu bringen, zumal konservative Sozialdemokraten und nationalistische FDP-Abgeordnete ihrer jeweiligen Partei den Rücken gekehrt hatten, eine existenzielle Gefahr für die dünne Mehrheit der Brandt-Scheel-Koalition. Intrige und Bestechung führten dazu, dass die Attacke in einer denkwürdigen und aufwühlenden Abstimmung am 27. April 1972 scheiterte, zur großen Überraschung aller Beteiligten und der ganzen deutschen Öffentlichkeit. Sie kündigte den politischen Untergang Barzels an, ganz im Sinne des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, der dem CDU-Vorsitzenden stets mit Verachtung und Niedertracht begegnete, nach einer Partitur, die man heutzutage - im jüngsten Bundestagswahlkampf - auf gespenstische Weise nachgespielt hat.

Die Stasi hatte die Finger im Spiel

Erst war die scheinbar eindeutige Diagnose, die SPD habe christdemokratische Dissidenten bezahlt. Nur wenig später gestand einer, der CDU-Hinterbänkler Julius Steiner, er sei als Agent des Staatssicherheitsdienstes der DDR angeheuert worden. Irgendwie mochte das damals niemand hören, glaubte man doch in Karl Wienand, dem Geschäftsführer der SPD-Fraktion, einen passenden Täter gefunden zu haben, ohne dass dies je wirklich bewiesen wurde. Erst in den 1990er-Jahren wurde nicht zuletzt durch Bekenntnisse des einstigen DDR-Abwehrchefs Mischa Wolf ziemlich klar, dass tatsächlich die Stasi hinter alledem steckte - offenbar angestiftet von Strauß.

All dies haarklein erklärt zu bekommen, wäre schon für sich eine ungeheuer spannende Geschichte, zumindest für jene, die die turbulente, emotionsgeladene, geschichtsträchtige Epoche bewusst miterlebt haben. Das "Jubiläum" dieser epochemachenden Affäre nimmt Palmer zum Anlass einer minutiösen Darlegung. Er hat alles ja selbst miterlebt, als junger Reporter des Kölner Stadt-Anzeigers. So hat der Protagonist des Romans, ein altes Reporterschlachtross namens Zink, auch autobiografische Anklänge. Als einer der präzisesten und beharrlichsten Rechercheure unter deutschen Journalisten (nach der SZ hauptsächlich beim Spiegel), glaubt Palmer freilich nicht ganz an die Strahlkraft dieser scheinbar historisch entrückten Zeit. So spinnt er eine von Zink aufgerollte Agenten- und Gangstergeschichte, die mit dem Kriegsende beginnt und sich im Spannungsfeld der deutschen Teilung und deren Verstrickungen und Tragödien zu einem Gespinst entwickelt, das wie nebenbei Umständen, Wendungen und Verwicklungen der deutschen Ost-West-Beziehungen folgt.

Palmer ist es gelungen, einen Krimi und eine Dokumentation zwischen zwei Buchdeckeln zusammenzuziehen. Allerdings stößt das auf eine gespaltene Leserschaft. Die historisch Orientierten bekommen das politisch-personelle Knäuel jener Affäre mit aufregendem Detailreichtum und Deutungstiefe entwirrt. Dann sind da die jüngeren Semester, denen der politische Kern so fiktiv vorkommen könnte wie sein Mantel, die Agenten-, Verwechslungs- und Mordgeschichte.

Ein Beweis für die These liegt nicht vor, aber fast

Palmer identifiziert nämlich in all den Schichten von Fakten und Rückschlüssen den Populisten und Politbösewicht Strauß als den eigentlichen Drahtzieher der Affäre, in gründlicher Recherche und dem Nachvollzug der Prozesse jener Abstimmung und ihres donnernden Nachhalls. Beweisen kann er Straußens Verrat nicht. Palmer macht aber auch niemandem etwas vor über Glaubhaftigkeit und Beweisbarkeit seiner These. Er spielt mit völlig offenen Karten, die er im Nachwort nochmals darlegt. Auch habe ihm Rainer Barzel selbst kurz vor seinem Tode anvertraut, dass eine der in der entscheidenden Abstimmung ausschlaggebenden Enthaltungen aus der CDU/CSU mit absoluter Sicherheit die von Strauß selbst gewesen sei, nur um ihn, Barzel, vom Kanzleramt fernzuhalten, für das sich der CSU-Chef allein selbst befähigt und ausersehen hielt.

Kenner der Zeit und der Akteure sind heute überzeugt, dass dieser Genealogie des für uns heute glücklichen Scheiterns zwingende Logik innewohnen könnte. "Verrat am Rhein" ist also ein politisch brisanter Text, kriminalistisch unterhaltsam gerahmt.

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