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Wahl in Ungarn:Die Nervosität des Viktor Orbán

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Es gibt nichts zu beschönigen: Ungarns Premier ist ein machtversessener, nationalistischer Rechtspopulist, der für einen Sieg vor nichts zurückschreckt. Doch nun scheint Orban um seinen Sieg zu bangen.

Gastbeitrag von Paul Lendvai, Wien

Paul Lendvai, 88, in Budapest geborener Publizist, ist seit 1959 österreichischer Staatsbürger. Er hat 17 Sachbücher über Mittel- und Osteuropa veröffentlicht, die in mehrere Fremdsprachen übersetzt wurden.

Die Wahlkampagne der seit acht Jahren unangefochten regierenden Fidesz-Partei vor der sonntäglichen Parlamentswahl in Ungarn erinnert an ein Libretto aus Elementen von George Orwells Klassiker "1984" und Szenen des absurden Theaters frei nach Ionesco oder Beckett.

Der Fidesz-Chef und Ministerpräsident Viktor Orbán, der am 23. Mai seinen 55. Geburtstag feiert, ist der nahezu uneingeschränkte Herrscher dieses EU-Mitgliedsstaates, der noch nicht als eine Diktatur nach der Art von Putins Russland gelten kann, aber längst nicht mehr als eine mit rechtsstaatlichen Garantien abgesicherte, liberale Demokratie.

Gerede von Revolution und permanenter Krise

Der ungarische Politologe András Körösényi, der den Begriff "Führerdemokratie" für das Orbán-Regime geprägt hat, betrachtet es heute als "autokratische Machtausübung im demokratischen Rahmen". Zu Recht verwirft er das von Orbán-Bewunderern in München und Wien immer wieder ausgesprochene Lob für dessen angeblich "bürgerliche" Regierung als Unsinn.

Mit Hinweis auf die Radikalität von Orbáns Politik, sein Gerede von Revolution und permanenter Krise, die mehrfachen schnellen Verfassungsänderungen, das fragwürdige Verhältnis zum Rechtsstaat, den Umbau der Besitzverhältnisse, die Verteilung der EU-Transfers und den Aufbau einer Oligarchie hebt er hervor, dass von einem bürgerlichen Charakter des Orbán-Regimes keine Rede sein könne.

Man muss es offen aussprechen: Der aus ärmsten Verhältnissen stammende Orbán ist ein mit allen Wassern gewaschener, machtversessener, nationalistischer Rechtspopulist, der sich nach empfindlichen Niederlagen mit seiner persönlichen Ausstrahlung, mit eisernem Willen, mit unbestrittenem Mut, mit einem unheimlichen Machtinstinkt nach oben gekämpft hat. Für den zutiefst zynischen Berufspolitiker bedeutet Politik im Sinne Carl Schmitts die Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden.

Am Anfang seiner Karriere war Orbán ein kirchenfeindliche Sprüche klopfender, langhaariger Rebell in Bluejeans; mittlerweile ist er zu einem stromlinienförmigen Liebling des von dem Staatsbudget großzügig bedachten, konservativen Episkopats und, selber Protestant, erst recht seiner protestantischen Bischöfe geworden.

Es ist ihm gelungen, mit finanziellen Zuwendungen die orthodoxen Rabbiner der gespaltenen, kleinen jüdischen Gemeinde Ungarns für Fidesz zu gewinnen.

Als ihm Kritik entgegenschlug wegen seiner antisemitischen Untertöne in der Kampagne gegen den amerikanischen Investor und Philanthropen George Soros, erreichte er sogar den demonstrativen und politisch ungemein nützlichen Schulterschluss mit dem ähnlich zynischen israelischen Ministerpräsidenten.

Das Stichwort Soros bringt uns zurück zu George Orwell, der das "gewaltige System des Lügens, von dem die Diktatoren abhängen" analysiert hat. Er warnte allerdings, es sei "ganz leicht, sich einen Staat vorzustellen, in dem die herrschende Kaste ihre Anhänger betrügt, ohne sich selbst zu betrügen".

Seit fast zwei Jahren läuft Orbáns massive Kampagne gegen den 87-jährigen Milliardär Soros, vorgeblich zum Schutz der "christlichen und nationalen Identität Ungarns" und darüber hinaus des "christlichen Abendlandes" vor der Überschwemmung mit Millionen muslimischer Migranten. Soros wurde samt seiner weltweit tätigen Stiftung für die "Offene Gesellschaft" zu einem überlebensgroßen Feindbild aufgeblasen.

In Ungarn hängen zigtausende Plakate mit dem lächelnden Gesicht von Soros in Großaufnahme, versehen mit der Bildunterschrift: "Lassen wir nicht zu, dass Soros zuletzt lacht!" Andere Plakate zeigen Soros als Puppenspieler, der Oppositionskandidaten tanzen lässt.

Orbáns absurde Anschuldigungen gegen den Holocaust-Überlebenden Soros

Dem in Budapest geborenen Holocaust-Überlebenden, der 1947 vor der kommunistischen Machtergreifung nach Großbritannien geflohen ist, wird unterstellt, er habe mit einem schändlichen "Soros-Plan" die Flüchtlingsströme persönlich organisiert und zu diesem Zweck die EU-Institutionen unter Kontrolle gebracht.

Selbst der von der Fidesz-Regierung nach Brüssel entsandte EU-Kommissar Tibor Navracsics hat die Behauptungen einmal als absurd entlarvt und darauf hingewiesen, dass es sich bloß um Zeitungsartikel von Soros mit Vorschlägen zur Flüchtlingskrise gehandelt habe.

Trotz der Richtigstellung durch den intern zum "Verräter" abgestempelten Navracsics hat der in der ungarischen Geschichte beispiellose Propagandafeldzug in der Wahlkampagne einen neuen, bizarren Höhepunkt erreicht. Es entstand sogar ein neues Verb: "sorosozni", auf Deutsch etwa "sorosisieren". Gemeint ist damit, George Soros für alles verantwortlich zu machen.

In einer leidenschaftlichen Grundsatzrede zum Nationalfeiertag am 15. März hat Viktor Orbán die Wahl immer wieder zu einem schicksalhaften Kampf hochstilisiert, der nicht gegen "blutleere oppositionelle Grüppchen" geführt werde, sondern gegen das "von George Soros gelenkte und zu einem internationalen Reich ausgebaute Netzwerk". In jedem Wahlkreis seien die Oppositionskandidaten lediglich "Söldner" von Soros.

So gut wie alle ungarischen Medien unterstützen Orbáns Kampagne: der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Fernsehkanäle, die von Orbán-treuen Oligarchen kontrolliert werden, Internetportale, Lokalzeitungen. Unabhängige Meinungsumfragen bestätigen, dass die von ausländischen Beobachtern als absurd betrachteten Verschwörungstheorien mit unverkennbar antisemitischem Beigeschmack zumindest die der Fidesz-Partei treuen Kernschichten beeinflusst und möglicherweise mobilisiert.

Bis vor Kurzem noch schien der Wahlsieg von Fidesz sicher und sogar eine Zweidrittelmehrheit möglich zu sein. Die Oppositionsparteien sind klein, gespalten, zum Teil vom Regime unterwandert und bestochen. Die Briefwahl der Auslandsungarn aus den Nachbarländern wird nur von Fidesz-Leuten kontrolliert.

Orbán war einst selbst Soros-Stipendiat

Das Wahlgesetz macht das Auftauchen von zahlreichen, merkwürdigen Scheinkandidaten möglich. Doch wegen der zahlreichen, auch international untersuchten Korruptionsfälle aus dem Dunstkreis Orbáns ist mittlerweile ein Stimmungswandel zu spüren.

Die Nervosität des Ministerpräsidenten, der übrigens wie fast alle Fidesz-Würdenträger in den Achtzigerjahren von der heute dämonisierten Soros-Stiftung mit großzügigen Stipendien gefördert wurde, dürfte seine Drohungen in der Schlussphase der Wahlkampagne erklären. Der als gefährlicher Gegenspieler der deutschen Kanzlerin geltende Viktor Orbán scheint um seinen Sieg zu bangen. Er selbst sagte einmal: "In der Politik ist alles möglich."

Eine SZ-Rezension des exzellenten Buchs "Orbáns Ungarn" von Paul Lendvai lesen Sie hier.

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SZ vom 05.04.2018
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