Süddeutsche Zeitung

Wahl in Katalonien:Wie die "schweigende Mehrheit" die Katalanen spaltet

Lesezeit: 3 min

Spaniens Ministerpräsident Rajoy war überzeugt: Die Mehrheit der Katalanen sei gegen die Unabhängigkeit. Der Wahlerfolg der Separatisten zeigt, dass er sich geirrt hat. Oder etwa doch nicht?

Von Karin Janker, Barcelona

Mit "schweigenden Mehrheiten" argumentiert es sich leicht. Hören kann man sie per definitionem nicht. Gleichzeitig lässt sich einfach behaupten, eine "schweigende Mehrheit" stünde hinter einem. Der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy hat das versucht: Er sagte, er hoffe auf eine hohe Beteiligung bei der Wahl des katalanischen Parlaments; dann werde sich ihm zufolge zeigen, dass die Mehrheit der Katalanen nicht hinter dem Projekt einer unabhängigen Republik Katalonien stehe, das die bisherige Regierung bis zu ihrer Entmachtung Ende Oktober vorangetrieben hatte.

Das Ergebnis aber sieht anders aus: 82 Prozent Wahlbeteiligung - und noch immer haben die Separatisten die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament in Barcelona. Rajoy hat falsch kalkuliert. Oder nicht?

Am Tag nach der Wahl werden in den Parteizentralen in Katalonien die Ergebnisse analysiert, Schlüsse abgeleitet und Wunden geleckt. Man streitet in Presse und Fernsehen darüber, was das Wahlergebnis zu bedeuten hat. Allen scheint es vor allem darum zu gehen, den Willen des Volkes aus dem Ergebnis abzulesen. Es wird interpretiert und gedeutelt. Allein, die Möglichkeiten der Interpretation sind vielfältig.

Separatisten sehen Puigdemont rehabilitiert

Für die einen scheint die Sache klar: "Wir wollen nun endlich eine katalanische Republik", sagt Lara López, die auf der Wahlparty der separatistischen Bürgerbewegung Assemblea Nacional Catalana (ANC) das Ergebnis feiert. Ein neues Referendum, glaubt sie, sei dafür nicht mehr notwendig: "Wir hatten ja bereits ein Referendum und dieses Wahlergebnis jetzt ist ebenfalls eindeutig." Die neue Regierung unter dem neuen und gleichzeitig alten Präsidenten Carles Puigdemont solle nun stattdessen weitere Schritte in die bereits eingeschlagene Richtung gehen, in Richtung Unabhängigkeit.

López blickt wie andere Puigdemont-Anhänger schadenfroh nach Madrid und auf Rajoy, dessen Prophezeiung von einer "schweigenden Mehrheit" sich nicht erfüllt habe. Schließlich hat das Lager der Separatisten, bestehend aus Puigdemonts Wahlbündnis Junts per Catalunya (JxCat), der linken Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) und der neomarxistischen Candidatura de Unidad Popular (CUP) 70 der 135 Sitze im Parlament errungen. Zwei mehr als für eine absolute Mehrheit notwendig sind.

Gegner der Unabh ängigkeit z ählen Stimmen statt Sitze

Allerdings sieht das Ergebnis nur so eindeutig aus, wenn man tatsächlich die Sitzverteilung im Parlament betrachtet, die sich nach den Ergebnissen in den vier Provinzen Kataloniens berechnet. Die Mehrheit der Stimmen konnten die Separatisten nicht für sich gewinnen. Als Siegerin geht stattdessen die liberale Partei Ciutadans/Ciudadanos aus der Wahl hervor - und die hat sich klar gegen die Unabhängigkeit positioniert. "Jeder vierte Katalane hat uns gewählt", sagt ihr Vorsitzender Albert Rivera am Tag nach der Wahl im spanischen Fernsehen.

Auch der Politologe und Publizist Fernando Vallespín, der an der Universidad Autónoma de Madrid Politikwissenschaft lehrt, warnt: "Dieses Ergebnis ist kein Mandat für eine separatistische Regierung, um weiter an der Sezession Kataloniens zu arbeiten." Nur knapp 48 Prozent der Wähler haben die Separatisten gewählt, betont Vallespín. Damit ähnelt die Ausgangslage nach dieser Wahl sehr stark der nach der letzten Parlamentswahl im Jahr 2015.

Und die schweigende Mehrheit?

Vallespín zufolge hat Rajoy sich aber tatsächlich verrechnet. "Er hat nicht an die vielen neuen Wähler gedacht, unter denen vor allem junge Menschen sind, die tendenziell eher für die Unabhängigkeit sind, weil sie nicht mehr als Spanier sozialisiert werden, sondern als Katalanen", sagt der Politologe. Katalanisch ist die einzige Unterrichtssprache in den ersten Schulklassen, Spanisch lernen viele Kinder erst danach, ähnlich einer ersten Fremdsprache.

Diese Interpretation erscheint eindimensional, wenn man bedenkt, wie heterogen die katalanische Gesellschaft trotz alldem ist. Viele haben Eltern, Geschwister und nahe Verwandte in anderen Regionen des Landes, nur wenige Familien leben seit Generationen in Katalonien. Mit all diesen Verflechtungen und unterschiedlichen Identitäten sind die Katalanen bislang gut zurecht gekommen. Ein Drittel der Bevölkerung bezeichnet sich Studien zufolge als Spanier.

Wie kompliziert die Frage nach der Identität inzwischen aber geworden ist, zeigt eine Bemerkung der Unabhängigkeitsbefürworterin Lara López: Halb im Scherz erklärt sie, dass sie dieses Wochenende unbedingt ihre Mutter anrufen müsse. Die lebe in der nordwestlichen Region Galicien und mache sich nun bestimmt Sorgen, dass sie künftig einen Pass braucht, um ihre Tochter besuchen zu können. Ihre Mutter verstehe nicht, warum die Tochter sich für eine katalanische Republik einsetzt, wo sie doch galicische Wurzeln hat.

Wie viele andere Separatisten erhofft sich López von einer Abspaltung die Erfüllung einer Utopie. "Ich wünsche mir einen Neustart in einem Katalonien, das transparent und weltoffen ist", sagt sie. Ihre beiden Identitäten, die spanische und die katalanische, kämen sich dabei nicht in die Quere: "Ich spreche mit meiner Mutter Spanisch, mit meinem Sohn Katalanisch. Und so würde ich das auch halten, wenn wir unabhängig werden."

Die Mehrheit der Katalanen, so scheint es am Tag nach der Wahl, sieht die Sache ebenso pragmatisch. Vielleicht drückt Ernesto, der am Donnerstag seine 18-jährigen Zwillinge Saúl und Celia bei ihrem ersten Urnengang begleitet hat, die Meinung der sogenannten "schweigenden Mehrheit" deshalb am besten aus: Er wolle keine Unabhängigkeit, sondern nur ein Ende dieser unerträglichen Situation - auch wenn dafür noch einmal ein Referendum notwendig wäre.

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