Süddeutsche Zeitung

Waffenlieferungen:"Nichts ist alternativlos"

Lesezeit: 2 min

Während CDU-Chef Merz in Kiew weilt, warnt Sachsens Ministerpräsident erneut vor deutschen Panzern und Haubitzen in der Ukraine. Von einem Zerwürfnis aber will Michael Kretschmer nichts wissen.

Von Ulrike Nimz, Leipzig

Es war Michael Kretschmer (CDU) offenbar ein Bedürfnis, die Dinge noch einmal klarzustellen: Der Krieg in der Ukraine sei ein "furchtbares Verbrechen", sagte der Ministerpräsident am Dienstagabend zum Auftakt eines Bürgerdialogs der sächsischen Union in Wilsdruff bei Dresden. "Es ist klar, dass der Aggressor in Russland sitzt." Es gebe "keinen klitzekleinen Grund, warum man das verteidigen sollte". Damit war die rhetorische Rampe gebaut für das große Aber: Bedenken habe er nach wie vor bei der Lieferung schwerer Waffen ins Kriegsgebiet, insbesondere bei Panzern und Haubitzen, sagte Kretschmer und nahm Bezug auf einen Gastbeitrag des Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung, in der dieser angesichts einer möglichen nuklearen Eskalation eine abwägende Politik anmahnt. "Nichts ist alternativlos, nichts ist folgenlos, auch für unsere Enkel und Kinder", warnte Kretschmer und erntete Applaus.

Bereits am Montag hatte Sachsens Regierungschef während einer Sitzung des CDU-Präsidiums offenbart, dass er die Bedenken teilt, die mehrere Prominente in einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) formuliert haben. Das Schreiben bilde "nicht die Mehrheit der veröffentlichten Meinung ab, aber durchaus die Mehrheitsmeinung der Gesellschaft, auch meine". Damit vertritt Kretschmer eine dezidiert andere Position als Parteichef Friedrich Merz, der ebenfalls am Dienstag den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij in Kiew traf. Von einem Affront, einem Richtungsstreit gar, will Kretschmer - immerhin einer von fünf Stellvertretern des CDU-Bundesvorsitzenden - aber nichts wissen. Vielmehr sei er von Merz nach seiner persönlichen Einschätzung gefragt worden, weil dieser stets an anderen, auch gegensätzlichen Haltungen, interessiert sei. Nur ein parteiinterner Meinungsaustausch also?

Tatsächlich ist die erneute Einlassung Kretschmers wohl auch der Versuch, Kritik aus den eigenen Reihen und seiner Koalitionspartner zu begegnen. Die Landesgruppe der CDU im Bundestag hat der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine zugestimmt und erklärte, in dieser Frage entschieden anderer Auffassung zu sein. "Verständnis für beide Seiten" äußerte hingegen der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion. Er habe in den vergangenen Tagen sowohl Bedenken gehört als auch die Position, ein Land müsse sich verteidigen können, sagte Sören Voigt der Sächsischen Zeitung. "Völlig unverständlich" nannte SPD-Landeschef Henning Homann Kretschmers Äußerungen. Dieser spreche nicht für die Koalition aus CDU, SPD und Grünen in Sachsen, schrieb Homann auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. "Kurzfristige Umfragewerte und Stimmungen sollten nicht Richtschnur von Politik sein".

Die Mehrheit der Sachsen lehnt Waffenlieferungen ab

Kretschmer ist in der Vergangenheit wiederholt durch eine abweichende Haltung zu Russland und Wladimir Putin aufgefallen. So plädierte er für eine Abschaffung der Sanktionen nach der Annexion der Krim, betonte die Bedeutung deutsch-russischer Wirtschaftsverflechtungen und lehnte ein Energie-Embargo ab. Dass die sächsische "Mehrheitsmeinung" durchaus eine andere ist als die deutsche, belegte zuletzt eine Umfrage des Spiegel und der Meinungsforscher von Civey: Während eine knappe Mehrheit der Bundesbürger eine Lieferung schwerer Waffen befürwortet, lehnen im Freistaat mehr als zwei Drittel diese Praxis ab.

Dass Michael Kretschmer, bekannt für seine Politik des Bauchgefühls, nun so öffentlich Stellung gegen Berlin bezieht, dürfte auch mit den bevorstehenden Bürgermeister- und Landratswahlen in Sachsen zu tun haben, bei denen die CDU fürchten muss, den ein oder anderen Posten an die AfD zu verlieren. Auch die Landtagswahl 2024 wirft bereits ihre Schatten voraus. Seit der Corona-Pandemie sind die Umfragewerte des Ministerpräsidenten im Dauertief. Da kann es nicht schaden, sich als Mann der unbequemen Überzeugungen zu präsentieren. "Wir sind immer dahin gegangen, wo es wehtut, wir haben uns korrigiert, wenn wir falsch lagen", schloss Kretschmer sein Grußwort auf dem Rittergut in Wilsdruff und meinte seine Partei. Ob das im Zweifel auch für ihn allein gilt, wird sich zeigen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5578362
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.