Süddeutsche Zeitung

Venezuela:Ende der Offenheit in Südamerika

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Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Der Andenstaat Ecuador gehört zu den Ländern mit der fortschrittlichsten Asylpolitik weltweit. Vor zehn Jahren wurde dort das Prinzip der "ciudadanía universal", des Weltbürgertums, in der Verfassung verankert. Das folgte dem Leitbild eines Menschenrechts auf Migration, der Idee von einer Welt, in der niemand plötzlich als illegal gilt, bloß weil er eine Grenze übertreten hat. Es lässt deshalb besonders aufhorchen, wenn Ecuador plötzlich einen Flüchtlings-Notstand ausruft.

Das relativ kleine südamerikanische Land konnte sich seine Weltoffenheit auch deshalb leisten, weil die Zahl derer, die dort einreisen und bleiben wollen, stets überschaubar war. Das hat sich in den vergangenen Monaten radikal geändert. Grund dafür ist ein beispielloser Exodus aus Venezuela. Laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR geht es um "eine der größten Massenbewegungen in der Geschichte Lateinamerikas". 2,3 Millionen Venezolaner, rund sieben Prozent der Bevölkerung, haben ihre Heimat nach UN-Angaben inzwischen verlassen. Allein 1,6 Millionen sind in den vergangenen drei Jahren ausgereist, seit sich die Wirtschafts- und Versorgungskrise zugespitzt hat. Wer meint, die größte Flüchtlingsbewegung finde derzeit auf dem Mittelmeer statt, liegt falsch.

Venezolaner, die es sich leisten können, weil sie etwa Verwandte im Ausland haben, die Devisen schicken, flüchten mit den wenigen Maschinen, die noch am Flughafen von Caracas verkehren. Bevorzugt nach Miami oder Madrid. Schon seit 2016 werden die meisten Asylanträge in Spanien nicht von Afrikanern gestellt, sondern von Venezolanern. Doch die große Mehrheit verlässt das Land mit Bussen, Schlepperbanden oder einfach zu Fuß. Vor allem in Richtung Westen, nach Kolumbien.

Dort haben nach Regierungsangaben fast 870 000 Venezolaner eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhalten - keineswegs selbstverständlich in einem Land, das mit seinen sieben Millionen Binnenflüchtlingen des leidlich befriedeten Bürgerkrieges schon genug Sorgen hat. Zumal die Zahl der tatsächlichen Grenzübertritte aus Venezuela noch wesentlich höher sein dürfte. Viele Flüchtlinge ziehen weiter nach Süden, nach Ecuador, Peru und Chile.

In Ecuador, einem Land mit knapp 17 Millionen Einwohnern, sprach das Außenministerium zuletzt von einer Million eingereisten Venezolanern allein in diesem Jahr. Etwa 200 000 von ihnen hätten sich entschlossen, zu bleiben. Damit wurde die Ausrufung des Notstandes in nördlichen Teilen des Landes begründet.

Entgegen seiner Willkommenskultur teilte die Regierung in Quito mit, von venezolanischen Migranten künftig einen gültigen Reisepass zu fordern. Das wäre de facto einem Einreisestopp gleichgekommen, denn viele Venezolaner sind nur mit einem Personalausweis unterwegs. Reisepässe sind in Venezuela etwa so schwer zu bekommen wie Nahrungsmittel oder Medikamente. Ein ecuadorianisches Gericht hob die Passpflicht deshalb mit Verweis auf die Verfassung wieder auf. Innerhalb von 45 Tagen muss die Regierung nun einen umfassenden Plan für die Fluchtbewegung entwickeln. Mitte September findet in Quito auch eine Außenministerkonferenz statt, um das Vorgehen mit den anderen südamerikanischen Staaten zu koordinieren.

An der Grenze zu Peru geht es um Minuten

Zum ecuadorianischen Notfallplan gehört einstweilen ein von der Regierung eingerichteter "humanitärer Korridor". Mit Überlandbussen werden die venezolanischen Flüchtlinge zur peruanischen Grenze gebracht. Am Wochenende kam es dabei zu einem dramatischen Wettlauf mit der Zeit. Denn auch Peru, das bislang recht unbürokratisch Venezolaner einreisen ließ, verkündete plötzlich die Einführung der Passpflicht. Sie trat am Samstag um Mitternacht in Kraft. Für viele venezolanische Familien, die zum Teil seit Wochen unterwegs waren, ging es bei der Busfahrt in die Grenzstadt Huaquillas auf einmal um Minuten. Nicht alle erreichten sie noch rechtzeitig. Lokale Medien berichteten von Müttern mit Säuglingen auf dem Arm, die unter Tränen zum Grenzübergang sprinteten und von verzweifelten Schreien um vier Uhr morgens: "Und jetzt?"

Die peruanischen Behörden teilten daraufhin mit, in Einzelfällen die Einreise aus humanitären Gründen zu prüfen. Schwangere Frauen, ältere Menschen und Kinder würden weiterhin ohne gültigen Pass ins Land gelassen, hieß es in einer Mitteilung des Innenministeriums. In Peru sollen sich rund 400 000 venezolanische Migranten aufhalten. Die meisten Venezolaner, die derzeit durch Südamerika irren, geben den Mangel an Lebensmitteln als Hauptgrund für ihre Flucht an. Nach Angaben von Hilfsorganisationen sind mehr als die Hälfte von ihnen unterernährt. Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro hat den ölreichsten Staat der Erde in das Armenhaus des Kontinents verwandelt. Auch die Gesundheitsversorgung ist komplett kollabiert. Internationale Beobachter sprechen von einer "komplexen humanitären Krise", die sie sonst nur aus Kriegsgebieten wie Syrien oder Südsudan kennen würden.

Auch weil Venezuela zu deutlich besseren Zeiten ein Ort der Zuflucht für viele Latinos war, spürte man in der ganzen Region zunächst eine breite Solidaritätswelle mit den Flüchtlingen aus dem Hunger- und Unrechtsstaat Maduros. Doch das ändert sich gerade rapide. Einige Regierungen sind mit der schieren Zahl an Ankömmlingen überfordert, wie die Beispiele Ecuador und Peru zeigen. Und in den Grenzregionen, wo die Notunterkünfte aus allen Nähten platzen, macht sich zunehmend Unmut und Fremdenhass breit.

Das gilt auch für Brasilien, wo die Flüchtlingskrise mitten in den Präsidentschaftswahlkampf fällt und rechte Kandidaten versuchen, damit Stimmung zu machen. In der Grenzstadt Pacaraima wurde Mitte August ein venezolanisches Zeltlager angezündet. Rund 1200 Flüchtlinge eilten unter Beifall von Anwohnern wieder zurück über die Grenze. Einer der Betroffenen wurde mit dem Satz zitiert: "Ich möchte lieber in Venezuela verhungern als in Brasilien totgeschlagen werden."

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SZ vom 29.08.2018
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