Süddeutsche Zeitung

Ukraine-Krise:Macron auf der Suche nach dem Ausweg

Lesezeit: 4 min

Der französische Präsident will in Moskau Optionen für eine Deeskalation ausloten. Sechs Stunden spricht er mit Wladimir Putin. Es gibt keine Lösung, aber Worte des Dankes und der Zuversicht.

Von Jens Schneider

Gibt es einen Schlüssel zur Lösung der Krise um die Ukraine? Trotz aller Mahnungen und Warnungen des Westens hat Russland das militärische Drohszenario an der Grenze zur Ukraine weiter aufgebaut. An diesem Montag nun reiste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach Moskau. Gut sechs Stunden lang dauerte sein Gespräch mit Wladimir Putin, allein in einem großen Saal, beide an den entgegengesetzten Enden eines langen, weißen Tisches. Es war nach Mitternacht, als sie sich den Fragen von Journalisten stellten. An diesem Dienstag will Macron weiter nach Kiew reisen und mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij sprechen.

Nützlich nannte Putin in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Macron das Gespräch mit dem französischen Präsidenten. Einige der Ideen und Vorschläge Macrons könnten die Basis für weitere gemeinsame Schritte sein, sagte Putin. Es sei zu früh, konkret darüber zu sprechen. Er werde erneut mit Macron reden, wenn dieser sich mit der ukrainischen Führung ausgetauscht habe. Macron machte seinerseits klar, dass diese Runde nur der Anfang sein solle. Es werde viele Gespräche in den kommenden Tagen und Wochen geben müssen. Die erste Priorität sei für ihn, die aktuelle Situation zu stabilisieren und die Lage zu deeskalieren. Es könne für diese Lage nur eine politische, diplomatische Lösung geben.

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland müsse geklärt werden, damit die Europäische Union und Russland ihre Beziehungen verbessern könnten. "Unsere Pflicht ist, weiter zusammenzuarbeiten", führte der französische Präsident aus und betonte, dass er als Pflicht Frankreichs ansehe, sich der Aufgabe anzunehmen, nach einer Lösung zu suchen. Gewiss gebe es Meinungsverschiedenheiten, so Macron. "Wir müssen uns bemühen, Kompromisse zu finden."

An Macrons Mission werden nicht geringe Erwartungen geknüpft. Er hat selbst viel zu dieser Anspruchshaltung beigetragen. Der französische Präsident reklamiert für sich eine hervorgehobene Rolle in der Diplomatie. In den vergangenen Jahren hat er viel investiert, um ein besonderes Verhältnis zu Putin zu entwickeln. Der hat Macron gerade erst als einen für ihn herausragenden Gesprächspartner bezeichnet. Auch an diesem späten Montagabend lobte Putin den Franzosen und dankte ihm für sein Engagement.

Frankreich hat derzeit die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union inne, und der französische Präsident bezieht ausdrücklich die Verbündeten in seine Mission ein. In der vergangenen Woche hat er viel telefoniert, sich mit dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden abgestimmt und auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz. "Deeskalation und Dialog", so lautete die Formel, mit der sich der amtierende EU-Ratspräsident auf den Weg zu Putin machte. Das zentrale Ziel soll der Abbau der Drohkulisse sein, die der russische Präsident Putin in den letzten Tagen und Wochen mit seinen Soldaten und Panzern errichtet hat.

Die Visite dürfte nur der Auftakt sein in einem längeren Ringen um eine Lösung

Doch wie ein Dialog aussehen könnte, der Putin tatsächlich zu einer Umkehr oder zumindest zu ersten Schritten einer Deeskalation bewegen könnte, lässt sich schwer einschätzen. Offenbar geht es Macron darum, Putins Interessen entgegenzukommen, dabei aber ausdrücklich die Integrität der Ukraine zu wahren und an allen gemachten Zusagen der Nato festzuhalten.

Dazu gab es schon vor dem Gespräch eine klare Botschaft aus dem Élysée-Palast. Macron werde bei seinem Besuch in Moskau klarmachen, dass sich der Westen auf eine einheitliche, abgestimmte Position geeinigt hat und dass eine Aggression Moskaus klar umrissene Konsequenzen hätte. Da konnte man ahnen, dass dies nur der Auftakt zu einem längeren Ringen um einen Ausweg sein sollte. Das russische Präsidialamt dämpfte seinerseits vorsorglich mögliche hohe Erwartungen an den Besuch. Es sei nicht davon auszugehen, dass es bei dem Treffen einen Durchbruch geben werde, sagte Sprecher Dmitrij Peskow.

Wie kompliziert die Sache ist, lässt sich schon daran ablesen, welch heikle Nebenwege für einen Lösungsversuch inzwischen offenbar erkundet werden. Unter Berufung auf französische Quellen berichtete die New York Times, dass dabei das sogenannte "Minsk 2"-Abkommen eine Rolle spielen könnte. Diese unter französischer und deutscher Vermittlung entstandene Vereinbarung aus dem Jahr 2015 sollte eigentlich dazu dienen, die Ostukraine zu befrieden. Das wurde nie erreicht. Zwar wurde eine Waffenruhe vereinbart, doch die Lage dort bleibt schwierig. In der Region wird bis heute gekämpft.

An der Souveränität der Ukraine gebe es nichts zu rütteln, sagt der Außenminister

Das "Minsk 2"-Abkommen wurde nie ganz umgesetzt und lässt, so die New York Times, viel politischen Spielraum. Eine Überlegung könnte offenbar sein, dass den russlandtreuen Kräften in den abtrünnigen Regionen im Donbass ein außenpolitisches Mitspracherecht in der ukrainischen Politik eingeräumt wird. So ein Mitspracherecht oder gar Einspruchsrecht wäre, so wird in dem Bericht angedeutet, ein möglicher Weg, um Putins Forderung zu erfüllen, dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato werden solle. Das käme aber einem Veto-Recht Moskaus gleich und dürfte bei der Regierung in Kiew auf sehr wenig Gegenliebe stoßen. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sagte denn auch am Montag in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundesaußenministerin Annalena Baerbock in Kiew, dass an der Souveränität und territorialen Integrität seines Landes nicht zu rütteln sei. Das ukrainische Volk sei die einzige "Quelle" für außenpolitische Entscheidungen seines Landes.

Das "Minsk 2"-Abkommen ist am Abend ein Thema. Putin fordert von der ukrainischen Regierung die Umsetzung des Friedensplans für den Donbass. Die Minsker Vereinbarungen würden bisher von ihr ignoriert, sagte er. Nötig sei ein Dialog Kiews mit den Führungen der abtrünnigen Regionen Luhansk und Donezk.

Macron betonte in seinen Statements, dass die Interessen aller Beteiligten und ihre Sicherheit gewahrt werden müssten. Dazu gehörte für ihn offenbar, dass der Westen anerkennt, welche Sorgen auf russischer Seite die Osterweiterung der Nato ausgelöst hat, zugleich aber erneut ausdrücklich betont, dass sie Millionen Menschen in Osteuropa Freiheit und Sicherheit garantiere. In dieser Anerkenntnis der russischen Irritation könne die Essenz des Dialogs liegen, den Macron und Putin führen - ohne dass irgendjemand im westlichen Bündnis daran denken würde, die Osterweiterung der Nato oder Zusagen des Bündnisses gegenüber der Ukraine rückgängig zu machen. In dieser Frage war Macron auch in den Minuten nach Mitternacht im Kreml vor der Presse unmissverständlich. So erklärte der französische Präsident, eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa sollte nicht dadurch geschaffen werden, dass Staaten das Recht auf einen Beitritt zur Nato abgesprochen werde. Macron lässt keinen Zweifel: Die Unabhängigkeit der Ukraine müsse bewahrt bleiben.

Macrons letzte Worte an diesem Abend waren: "Ich bin sicher, dass wir ein Ergebnis bekommen werden, auch wenn es nicht einfach ist." Ein sichtbarer Erfolg wäre die Macron-Mission gewesen, wenn er zumindest ein kleines, konkretes Signal der Deeskalation von der russischen Seite hätte erreichen können. Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich im April wäre eine diplomatische Lösung unter seiner Führung für Macron ein großer Prestigeerfolg. Die Woche der Diplomatie hat freilich erst begonnen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5523560
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/dpa
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.