Süddeutsche Zeitung

Ankara:Im Zweifel mit dem Kanonenboot

Seit Jahren will Recep Tayyip Erdoğan die Türkei zur führenden Regionalmacht im Nahen Osten machen. Das irritiert die Nato-Partner zusehends, vor allem den neuen US-Präsidenten. Trotzdem spricht Biden von Fortschritten.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, der türkische Staatschef habe einen feinen Sinn für Humor. Vor seinem Treffen mit dem US-Präsidenten beim Nato-Gipfel sagte Recep Tayyip Erdoğan, es gebe "viele offene Fragen" zu klären zwischen ihm und Joe Biden. Viele offene Fragen? Kein anderer Nato-Staat hat derzeit so grundsätzliche Konflikte mit den USA als dem wichtigsten Mitglied der Allianz wie die Türkei. Auf der anderen Seite hat Biden es in Brüssel als "heilige Pflicht" der USA bezeichnet, Europa, Kanada und die Türkei nach Artikel fünf der Nato-Charta zu verteidigen. Will heißen: Bei allem Streit scheint im Grundsatz klar zu sein, dass Washington Ankara als Nato-Staat auf keinen Fall verlieren möchte, trotz aller Reibereien.

Diese Reibereien wurden in letzter Zeit sehr öffentlich ausgetragen. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hatte im Streit um die russischen S-400-Flugabwehrraketen, die das Nato-Mitglied Türkei in Russland gekauft hat, mehrmals erklärt, der Kauf sei erfolgt und abgeschlossen, Punkt, es gäbe da gar nichts mehr zu besprechen. In den Worten von US-Außenminister Antony Blinken klang die Reaktion auf solche Äußerungen schon einmal so: Die Türkei sei Nato-Mitglied, sie benehme sich aber nicht wie ein Nato-Mitglied.

Joe Biden nannte den türkischen Staatschef schon mal "einen Autokraten"

Die Streitthemen zwischen den USA und der Türkei sind ebenso zahlreich wie grundsätzlich und daher schwer zu lösen. Da behebt auch ein Tête-à-Tête der Präsidenten kaum alle Probleme. Zumal das Verhältnis von Biden zu Erdoğan zumindest vor dem Treffen alles andere als einfach war. Die beiden sind bereits früher, als Biden unter Barack Obama noch US-Vizepräsident war, aneinandergeraten, Biden nannte den türkischen Staatschef später sogar "einen Autokraten".

Nach seiner Amtsübernahme hat der Amerikaner den Türken spüren lassen, dass da nicht nur die Supermacht gegen eine Mittelmacht steht, sondern der Mann im Weißen Haus den Herrn aus Ankara auch persönlich nicht so sehr schätzt. Erdoğan, der mit Bidens Vorgänger Donald Trump bestens konnte, musste weit länger als die Chefs anderer Partnerstaaten der USA auf einen Begrüßungsanruf aus dem Weißen Haus warten. Das war nicht nur Politik, das war auch persönlich.

Trotzdem zogen die Präsidenten am Montagabend jeweils eine positive Bilanz ihres Treffens am Rande des Brüsseler Nato-Gipfels. "Ich bin mir sicher, dass wir wirkliche Fortschritte erzielen werden", sagte Biden über die zuletzt gespannten Beziehungen. Die jeweiligen Stäbe würden nun an den Details der Vereinbarungen arbeiten. Um welche Vereinbarungen es genau ging, sagten sie zunächst aber nicht. Erdoğan hatte sich ebenfalls zuvor optimistisch gezeigt und erklärt, die Überschneidungen seien größer als die Differenzen.

Vor allem aber sind die Grundsatzfragen nicht leicht vom Tisch zu bekommen. Da geht es um die Zukunft der für Nato-Jets gefährlichen S-4oo-Luftabwehrraketen. Ankara hat diese Waffen angeschafft und die USA damit gezwungen, die Türkei aus dem Programm zum gemeinsamen Bau des F-35 Kampfflugzeugs zu werfen, Sanktionen zu verhängen. Denn die russischen Raketen lassen sich nicht in die bündnisweite Nato-Verteidigungskette integrieren. Sie können die Computer-Software der US-Jets auslesen und die neuesten Nato-Flugzeuge zu leichten Zielen werden lassen. Die Türken können die teuren Waffen aber nicht nach Moskau zurückschicken, sie können sie allenfalls einmotten. Die S-400 wäre ein Milliardengrab, der türkische Nationalstolz wäre angekratzt.

Die große Frage ist, wo sich die Türkei in Zukunft selbst sieht

Andere Fragen sind ebenso grundsätzlich. Die USA unterstützen die syrischen Kurden der YPG-Miliz, die nicht nur in der Türkei als Unterorganisation der türkischen PKK gelten und von Ankara als Terrorgruppe gebrandmarkt sind. Dass die USA den syrischen Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat und auch später große Mengen Waffen geliefert haben, ist für Erdoğan inakzeptabel. Für Washington hingegen sind die Kurden der Hebel, mit dem sie Druck sowohl auf das Assad-Regime ausüben können als auch auf die Syrien-Kriegsmacht Russland. Und nebenbei auch Erdoğan das Leben schwerer machen können. Beim Kampf gegen jede territoriale Autonomie der Kurden in Syrien hat die Regierung in Ankara die türkische Kurden-Minderheit im Kopf, deren potenziellen Separatismus sie fürchtet.

Hinzu kommt als Stolperstein das aggressive Vorgehen der Türkei bei der Rohstoffsuche im östlichen Mittelmeer. Das Nato-Land Griechenland fühlt sich bedroht, auch der EU-Staat Zypern muss die Türken fürchten. Die dem Streit zugrunde liegenden Grenzstreitigkeiten mögen den Türken in manchem Punkt recht geben. Ihre Kanonenboot-Politik verzeihen ihr aber weder die Nato noch die EU. Auch hier kann nur der Ton gemildert werden, immerhin hat sich Erdoğan in Brüssel nun mit dem griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis zusammengesetzt. Die grundsätzliche Frage der Anrechte auf die vermuteten Rohstoffe am Meeresgrund lassen sich aber nur in jahrelangen Prozessen vor internationalen Gerichten klären und nicht durch ein Gespräch zweier Staatsmänner auf einem Gipfeltreffen.

Bei alledem stellt sich die Frage, wo die Türkei sich selbst in Zukunft sieht. Das Land will - und das ist nicht nur der Wunsch von Staatschef Erdoğan - zu einer Regionalmacht im Nahen und Mittleren Osten werden. Seit Ende des Kalten Krieges betreibt Ankara eine Schaukel-Politik, will als Nato-Staat gleichzeitig gute Beziehungen zu Russland. Moskau ist für Ankara ebenso Partner wie regionaler Konkurrent, etwa in Syrien.

Auch das türkische Verhältnis zu China ist vor allem wirtschaftlich weit enger, als es den USA lieb sein kann in einer Zeit, in der Washington dem aufstrebenden Peking Grenzen setzen will. Dieses eigensinnige türkische Streben nach Unabhängigkeit und regionaler Vormacht in Übereinstimmung mit der Nato-Mitgliedschaft zu bringen, wird die westliche Allianz noch einige Jahre beschäftigen. Vorerst hätte die Türkei durchaus etwas anzubieten. Wenn die Taliban es zulassen, könnte sie nach dem Abzug der US-Truppen in Afghanistan als Hüter und Wächter über den Flughafen Kabul als Pulsader der im Stich gelassenen afghanischen Regierung einspringen.

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