Süddeutsche Zeitung

EU:Flüchtlingsdeal mit Wartezeit

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Von Daniel Brössler, Brüssel

Zwischen der Europäischen Union und der Türkei lief es zuletzt schlecht und immer schlechter. Ein Einvernehmen aber schien es zu geben: Der 2016 ausgehandelte Flüchtlingsdeal sollte nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. So ist in Brüssel stets fein unterschieden worden zwischen den "Vorbeitrittshilfen", die die Türkei als EU-Kandidat erhält, und jenen drei Milliarden Euro, die im Rahmen des Flüchtlingsabkommens fließen. Die Auszahlung für die Türkei als EU-Kandidat habe man auf ein Minimum zurückgefahren, wurde die vor allem aus Deutschland kommende Kritik gekontert. Ganz anders die Mittel im Rahmen des Deals: Dieses Geld diene ja nicht dem türkischen Staat, sondern helfe den Flüchtlingen.

Mittlerweile ist die Stimmung so schlecht, dass nicht einmal mehr das gilt. Nach SZ-Informationen muss die Türkei damit rechnen, dass die Zahlungen nun erst einmal langsamer fließen. Die zuständigen Beamten würden schlicht und ergreifend nicht mehr angetrieben, die nötigen Formalitäten im Eiltempo abzuwickeln, hieß es aus Kommissionskreisen. Es würden jedenfalls "keine Überstunden oder Wochenenddienste" mehr verlangt. Bislang hatte die EU-Kommission stets stolz vermeldet, dass das Geld besonders schnell und unbürokratisch fließe. Als ungerecht hatte man Klagen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan empfunden, die EU komme ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nach. Gesprächspartner von Erdoğan aus EU-Staaten munitionierte die EU-Kommission vorsorglich mit Statistiken, die das widerlegen.

Weder das Flüchtlingsabkommen noch die Zahlungen stellt die EU infrage

Mehr als 1,6 Milliarden Euro sind für 48 Projekte bislang vertraglich fest zugesagt worden. Bis Mitte Juni wurden nach Angaben der Kommission davon 811 Millionen Euro ausgezahlt; seitdem noch einmal 27 Millionen Euro. Das bereits ausgezahlte Geld ist zum großen Teil humanitären Organisationen und UN-Institutionen zugute gekommen. So gingen 310,4 Millionen Euro ans Welternährungsprogramm, 33,6 Millionen Euro ans Kinderhilfswerk Unicef, aber etwa auch 2,4 Millionen Euro an Ärzte der Welt.

Besonders hohe Beträge stehen aus, wo das Geld an staatliche Organisationen in der Türkei fließen soll. So sind dem türkischen Bildungsministerium 300 Millionen Euro für den Unterricht von etwa 500 000 syrischen Flüchtlingskindern zugesagt. Geflossen sind bis Juni 90 Millionen. Das Gesundheitsministerium soll ebenfalls 300 Millionen Euro für medizinische Versorgung und psychologische Betreuung von Flüchtlingen erhalten. Verbucht waren hier bis Mitte Juni 120 Millionen.

Infrage gestellt werden sollen zwar weder das Flüchtlingsabkommen noch die Zahlungen. Für weitere drei Milliarden Euro, die bis Ende 2018 versprochen sind, wird schon gesammelt. Der gedrosselte Eifer bei der Auszahlung ist aber durchaus als Signal an Erdoğan gedacht. Nach Attacken des Präsidenten auf deutsche Politiker, seine Einmischung in den Bundestagswahlkampf und der wiederholten Verhaftung von EU-Bürgern ist der Ton gegenüber der Türkei schärfer geworden. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn nannte Erdoğans Verhalten "inakzeptabel", EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte, die "Türkei entfernt sich in Riesenschritten von Europa". Die faktisch ruhenden Beitrittsverhandlungen will Juncker von EU-Seite aus aber nicht offiziell aussetzen.

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Quelle:
SZ vom 01.09.2017
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