Süddeutsche Zeitung

Sigmar Gabriel in München:"Gelegentlich ärgere ich meine Partei"

Lesezeit: 4 min

Von Lars Langenau, München

Die Welt, wie wir sie kennen, droht zu verschwinden. Erst kündigen die USA das Raketenabkommen INF, dann ziehen die Russen nach. 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges droht ein erneutes atomares Wettrüsten.

Ein guter Moment für einen ehemaligen Außenminister, um zu erklären, was da gerade los ist. Zumal einen Tag zuvor Altkanzler Gerhard Schröder, 74, seinen einstigen Zögling im Spiegel mit den Worten lobte: "Sigmar Gabriel ist vielleicht der begabteste Politiker, den wir in der SPD haben". Schröder hatte den Wunsch geäußert, Gabriel möge wieder eine stärkere Rolle in der SPD spielen. Der Münchner SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post, 37, sieht das ähnlich. Er hatte Sigmar Gabriel am Samstagvormittag nach München ins Literaturhaus eingeladen. 300 Besucher kamen, an der Basis scheint Gabriel immernoch gefragt.

Sigmar Gabriel, der Mann aus Goslar, war schon vieles: Ministerpräsident, Umwelt-, Wirtschafts- sowie Außenminister, Vize-Kanzler. Und - für heutige Verhältnisse - ziemlich lange SPD-Chef: von 2009 bis 2017. Ganz oben war er allerdings nie. Bei der vergangenen Bundestagswahl hatte er Martin Schulz den Vortritt gelassen. Das Ergebnis ist bekannt. Die SPD wird in aktuellen Umfragen bei 15 Prozent gehandelt. In Bayern würde es aktuell sogar darum gehen, ob die Partei überhaupt noch in den Landtag kommt.

Mal cool, mal professoral

Doch um den miserablen Zustand der SPD geht es an diesem regnerischen Vormittag in München nicht. Und auch Parteichefin Andrea Nahles wird kein einziges Mal erwähnt, wenngleich die Politik der unglücklich agierenden SPD-Chefin im Raum steht. Vielmehr geht es darum, dass Florian Post mit Sigmar Gabriel "diskutieren" soll, so hieß es zumindest in der Einladung. Und zwar über Gabriels aktuelles Buch "Zeitwende in der Weltpolitik - Mehr Verantwortung in ungewissen Zeiten". Eine Diskussion wird es dann aber eher nicht. Eine Lesung, wie Gabriels Verlag Herder die Veranstaltung angekündigt hatte, aber auch nicht. Vielmehr bietet Post Gabriel eine Bühne, stellt ausschließlich freundliche Fragen und so kann Gabriel mal cool, mal jovial, mal professoral dozieren.

Die Zeit, nachdem Gabriel von seinem geliebten Job als Außenminister (unfreiwillig) abgelöst wurde, nutzte er zum Verfassen eines Buches. In dem schreibt er, dass alles, was für die Deutschen seit Jahrzehnten sicher erschien, sich gerade rasant verändert: "Die USA fühlen sich nicht mehr für unsere Sicherheit verantwortlich. Die europäische Einigung ist nicht mehr selbstverständlich. Die jetzt anstehenden Entscheidungen über unseren Weg sind jenseits der politischen Routine. Europas Einigung und seine internationale Bedeutung hängen zentral von der Frage ab, wie sich Deutschland dazu verhält." Florian Post im Literaturhaus lobt denn auch: "Lieber Sigmar, an Aktualität ist Dein Buch nicht zu überbieten" - und überlässt seinem Parteifreund für die kommenden zwei Stunden das Wort. Und so erfährt man viel über Sigmar Gabriels Ansichten zur gegenwärtigen Außenpolitik und die Krisenherde in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt.

USA nicht mehr "Weltpolizist"

Über Russland sagt er, es sei nur ein "Obervolta mit Atomwaffen" unter dem Gelächter der Anwesenden. Über die Aufkündigung des INF-Vertrages sagt er, dass diese vor allem daran liege, dass Russland und die USA nun China als gemeinsamen Gegner haben, weil China nach 600 Jahren selbstgewählter Isolation nun nach einer Führungsrolle in der Welt greife. Er erwarte daher, dass die Vereinigten Staaten 2021 auch den auslaufenden Vertrag über Langstreckenraketen nicht verlängern werden.

Laut US-Präsident Donald Trump wollen die USA nicht mehr der "Weltpolizist" sein. Das sei "nicht durchgeknallt", sondern eine konsequente Durchsetzung Trumpscher Wahlversprechen. "Man kann von Trump lernen, wie man Dinge infragestellt." Der US-Präsident verstehe die Welt als "Arena, Kampfbahn", bei der nur die stärkste Nation mit einem "starken Deal" gewinne. "America first" sei im vollen Gang und in seiner Vollendung stehe die Welt ohne Ordnungsmacht da. Das würden wir alle noch zu spüren bekommen und zwar bald. Gabriel: "In der Mitte des Orkans ist es windstill."

Es mache ihn "nervös, wenn Deutschland danebensteht und nichts sagt", meint Gabriel. Nach zwei Weltkriegen habe die Welt, die USA, aber vor allem seine Nachbarländer darauf geachtet, dass "Deutschland nicht wieder auf dumme Gedanken" komme. Heute aber sehe er die größte Gefahr in der "Dominanz des Nicht-Handelns", sagt der SPD-Mann Gabriel. Dies sei umso gefährlicher, da die "USA nach 70 Jahren den Blick von Europa nach China wenden" würden. Bereits unter US-Präsident Barak Obama seien die Vereinigten Staaten dabei, sich von "einer transatlantischen Nation in eine pazifische Nation" zu wandeln und sich aus Europa zurückzuziehen.

Gabriel skizziert die bereits sichtbaren Ansätze einer neuen Weltordnung, bei der sich Deutschland nicht mehr "bequem" zurücklehnen könne. "Europa wurde gegründet aus Angst vor Krieg. Heute geht es nur ums Geld." Und sagt grinsend: "Was für glückliche Zeiten". Aber der Status Quo sei brüchig, der Wandel sei im vollem Gang. "Was war das schön mit den Amis", sagt er halbironisch. "Wenn die Mist gebaut haben, dann waren die Schuld." Man habe sich in Berlin gemütlich eingerichtet, "aber wir müssen die Ärmel hochkrempeln. Mut machen!" Deutschland müsse endlich eine Führungsrolle in Europa übernehmen. Andenfalls drohe die Europäische Union im Konflikt der Gegenwart und Zukunft, zwischen USA und China, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

"Es gibt fast keine politische Entscheidung, bei der man sich nicht schuldig macht"

Allerdings, warnt der Ex-Außenminister, müsse Deutschland (oft gemeinsam mit Frankreich) auch aufhören, die europäischen Nachbarn "moralisch unter Druck zu setzen". Sei es in der Flüchtlingspolitik, der Energiewende, beim Euro: "Wir glauben, wir retten die Welt". Stattdessen, empfiehlt er, müsse man sich in die kleinsten EU-Mitgliedstaaten versetzen und ihre Ängste ernstnehmen. Dann spricht er auch unangenehme, oft zweischneidige Entscheidungen seiner Amtszeit an. Etwa Waffenlieferungen an die kurdische YPG oder an den "Polizeistaat Ägypten", die dann nachher für andere Dinge verwendet wurden, als er gedacht habe. "Es gibt fast keine politische Entscheidung, bei der man sich nicht schuldig macht. Aber Entscheidungen zu treffen ist Aufgabe von Politikern."

"Gelegentlich ärgere ich meine Partei"

Gabriel verwendet klare, verständliche Bilder. Selten verirrt er sich in die Niederungen der Parteipolitik. Etwa, wenn er beschreibt, wie viele Funktionäre den Kontakt zu den "normalen Bürgern" verloren haben, wie schwer es seiner akademisierten Partei falle, viele AfD-Wähler als ehemalige SPD-Wähler ernst zu nehmen statt sie als Nazis zu diffamieren. "Wir sind zu wenig im Alltag des Landes zuhause." Grinsend fügt er hinzu: "Gelegentlich ärgere ich meine Partei." Vielmehr schwebt er inzwischen fast bundespräsidial und ein bisschen altersweise über der SPD. Etwa, wenn er die Gefahr skizziert, wenn bei den Europawahlen die konservative EVP und die sozialdemokratische SPE gemeinsam nicht mehr über 50 Prozent kommen würden. Überparteilich mahnt er Mut an, "sich zu kümmern", weil es "das Land wert ist, sich zu kümmern."

Die Veranstaltung kommt zu einem Ende. Florian Post sagt eindeutig mehrdeutig: "Lieber Sigmar, ich hoffe, dass Du wiederkommst..." Strategische Pause. "...nach München." Und ganz zum Schluss preist eine Frau dann auch noch, was wie bestellt wirkt, Gabriels "Empathie, Weitsicht und Humor". Gabriel entgegnet darauf trocken: "Wenn Sie in der SPD sind, dann brauchen Sie Humor."

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