Süddeutsche Zeitung

Rechtsextremismus bei der Polizei:Seehofer: "Kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden"

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Nach einem Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz gab es in vier Jahren mehr als 300 Verdachtsfälle von Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden. Für den Bundesinnenminister kein Grund für eine tiefere Untersuchung.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Sie laufen Streife bei der Polizei oder dienen in der Bundeswehr, manche arbeiten fürs Bundeskriminalamt, den Bundesnachrichtendienst oder kontrollieren Deutschlands Grenzen und Bahnhöfe: 377 Fälle von vermutetem oder nachgewiesenem Rechtsextremismus sind in den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern zwischen Anfang Januar 2017 und Ende März 2020 aktenkundig geworden. Das geht aus einem ersten bundesweiten Lagebericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz vor, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.

"Die Gesamtbewertung des Berichts ist deutlich: Wir haben es mit einer geringen Fallzahl zu tun", sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei der Präsentation des Berichts. 99 Prozent der Beschäftigten in Sicherheitsbehörden stünden, so die Interpretation des Innenministers, fest auf dem Boden des Grundgesetzes. "Das bedeutet, dass wir kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern haben", betonte Seehofer. Allerdings hätten Vertreter des öffentlichen Dienstes oder der Polizei eine besondere Vorbildfunktion. "Deshalb muss man auch bei den erwiesenen Zahlen sagen, dass jeder Fall eine Schande ist." Das "Image" aller Mitarbeiter solcher Behörden nehme dadurch Schaden.

Seehofer forderte die Beschäftigten der Sicherheitsorgane auf, genau hinzuschauen und die demokratische Werteordnung "aktiv" zu verteidigen. Eine Studie über Rassismus bei der Polizei lehnt der Bundesinnenminister weiter ab. Auf Anregung einer Polizeihochschule will er aber untersuchen lassen, mit welcher Einstellung Polizisten ihre Berufswahl treffen, welche Gewalterfahrungen sie im Alltag machen und zu welcher Haltung das führt. Zudem soll eine Studie über Rassimus und Diskriminierung in der gesamten Gesellschaft erstellt werden.

Für den Lagebericht zu Extremismus in Sicherheitsbehörden, der erstmals erstellt wurde, hat das Bundesamt für Verfassungsschutz Vorgesetzten in Behörden einen einheitlichen Fragebogen vorgelegt. Sie mussten Auskunft geben über gut 300 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 16 Länderpolizeien, bei der Bundespolizei, den Verfassungsschutzämtern, beim Bundesnachrichtendienst, dem Bundeskriminalamt, dem Zoll und beim Militärischen Abschirmdienst. Zu melden waren sowohl Verdachtsfälle als auch belegte Fälle von Extremismus, noch laufende Verfahren und bereits erfolgte Entlassungen - aber ausschließlich die bis März diesen Jahres bereits bekannt gewordenen Fälle.

Sicherheitsbehörden des Bundes meldeten 58 Verdachtsfälle, die Länder 319 und die Bundeswehr 1064 Verdachtsfälle. Meistens handelte es sich um radikale und rassistische Äußerungen, die Verherrlichung des Nationalsozialismus oder die Nutzung entsprechender Symbole oder Bilder in Chats oder sozialen Medien. In zwei der erfassten Fälle stellte sich heraus, dass sich ein Beamter als Mitglied einer rechtsextremistischen Organisation angeschlossen hatte. Zweimal wurden Kontakte zu solchen Gruppierungen nachgewiesen. Die erst vor Kurzem aufgedeckten rechtsextremistischen Chats bei Polizistinnen und Polizisten in Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin sind in den Ergebnissen noch nicht enthalten. Ebenso wenig wurden die jüngsten Drohungen gegen linke Politikerinnen und eine Anwältin ausgewertet, die mutmaßlich aus Polizeikreisen in Hessen stammen.

Vertreter des öffentlichen Dienstes stünden "in einer besonderen Pflicht", die Werte der Verfassung zu verteidigen, sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang am Montag in Berlin. "Deshalb schockieren die Berichte zu Verdachtsfällen in Sicherheitsbehörden wie in Nordrhein-Westfalen."

Haldenwang, der etwas andere Akzente setzte als Seehofer, betonte, mit dem Bericht lägen nur erste Fallzahlen vor. Die eigentliche Analyse werde nun folgen. "Wir werden diese Fälle garantiert nicht isoliert betrachten", kündigte Haldenwang an. Seine Behörde wolle feststellen, ob es "Kennlinien zwischen den Verdächtigen" gebe und ob sie "mit Personen außerhalb des Staates zusammenarbeiten". Angesichts der Professionalität von Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden, wegen ihre Zugänge zu Waffen und sensiblen Informationen sei hier besondere Aufmerksamkeit nötig. Bedienstete der Sicherheitsbehörden und Soldaten der Bundeswehr, so Haldenwang weiter, würden "zu einer erheblichen Gefahr, wenn sie sich extremistischen Positionen zuwenden".

Mit 1064 rechtsextremistischen Verdachtsfällen seit 2017 ist die Bundeswehr Spitzenreiter in der Statistik des Verfassungsschutzes. Aber auch die Bundespolizei, die bei der 44 Fälle von Rechtsextremismus bekannt wurden, hat 25 Strafverfahren eingeleitet. 17 Beamte wurde hier entlassen oder gar nicht erst eingestellt, es kam zu 27 Disziplinarverfahren. Bei den Länderpolizeien liegt Hessen mit 59 Verdachtsfällen auf dem ersten Platz, es folgt Berlin mit 53 Fällen. In NRW wurden bis März 45 Fälle bekannt, in Sachsen 28. Das Saarland ist das einzige Land, in dem keine Fälle von Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden bekannt wurden.

Die Vorlage des Berichts hat auch in der Union im Bundestag für nachdenkliche Töne gesorgt. Die Fallzahlen seien zwar mit Blick auf die mehr als 300 000 Mitarbeiter gering, "dennoch sind die mittlerweile bei der Polizei und bei anderen Sicherheitsbehörden erkannten Fälle von Rechtsextremismus und Rassismus keine Einzelfälle mehr", sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg.

Die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic forderte erneut, bei der Polizei mehr unabhängige Ansprechpartner für Hinweise etwa zu rechtsextremistischen Vorfällen zu installieren. Gebraucht würden "unabhängige Ansprechstellen wie Polizeibeauftragte, die außerhalb der Hierarchie verankert sind, an die man sich vertrauensvoll wenden kann und sich auch erstmal einen Rat holen kann, wie man mit der konkreten Situation umgeht", sagte Mihalic am Dienstag im ZDF-"Morgenmagazin". In vielen Ländern und beim Bund fehlten solche Strukturen.

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