Süddeutsche Zeitung

Schweiz:Blochers letzte große Schlacht

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Der Übervater der Schweizerischen Volkspartei will eine unbedingte Neutralität des Landes per Volksinitiative durchsetzen. An den Sanktionen gegen Russland dürfte sich Bern dann nicht mehr beteiligen.

Von Thomas Kirchner, München

Es blochert gerade gewaltig in den Schweizer Medien. Am Dienstag durfte Silvia Blocher, 77, auf einer Doppelseite im Politikteil der Neuen Zürcher Zeitung über das mehr oder weniger emanzipierte Leben an der Seite ihres berühmten Ehemanns erzählen. Während Christoph Blocher selbst, 81 Jahre alt und längst aller offiziellen Ämter ledig, die Schlagzeilen mit dem füllt, was er stets am liebsten gemacht hat: über Schweizer Schicksalsfragen nachzudenken.

Was der ehemals oder in Wahrheit noch immer starke Mann der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) vorhat, könnte zu seiner letzten Schlacht als Politiker werden. Es geht, mal wieder, um sein Lebensthema, das ihn regelmäßig in Konflikt mit dem Zeitgeist gebracht hat: die Unabhängigkeit. Die Schweiz, meint er, könne nur überleben, wenn sie sich aus den Händeln der Welt komplett heraushalte, wenn sie eine neutrale und souveräne Insel mitten in Europa bleibe.

Mit dieser Überlegung begann seine Karriere, als es ihm 1992 überraschend in einer Volksabstimmung gelang, einen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum zu verhindern. Und so könnte sie enden, wenn die Bürger dereinst über die brisante Volksinitiative befinden, die Blocher vorbereitet. Sie soll eine umfassende, unbedingte Neutralität der Schweiz in der Verfassung verankern.

Blocher sieht akuten Handlungsbedarf. Seiner Ansicht nach überschritt die Schweizer Regierung, der Bundesrat, in der Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eine rote Linie. Das Siebener-Gremium hatte bekanntlich zunächst verkündet, sich nicht an den Sanktionen der USA und der EU gegen Russland zu beteiligen und nur dafür zu sorgen, dass die Strafmaßnahmen nicht mit Schweizer Hilfe umgangen würden. Nach weltweiten Protesten, die das Land auch moralisch unter Druck setzten, knickte der Bundesrat kurz darauf ein und versprach, die EU-Sanktionen vollumfänglich zu übernehmen.

Dass die Schweiz die EU-Sanktionen trägt, ist für Blocher ein Sündenfall

Die neue Devise laute "kooperative" Neutralität, begründete Außenminister Ignazio Cassis den Schwenk. Während US-Präsident Joe Biden jubelte, dass "sogar die Schweiz" Russland jetzt Schmerzen verursache, nahm der Kreml die Eidgenossenschaft auf seine Liste der "unfreundlichen Staaten" auf.

Blocher, der die Weltläufe aus seiner Villa über dem Zürichsee beobachtet, protestierte schnell und laut. In Interviews und Artikeln konstatierte er einen Sündenfall. Es sei gerade die "immerwährende, bewaffnete und integrale" Neutralität, die dem Land in den vergangenen 200 Jahren den Frieden gesichert habe. Wobei integral bedeute, auch Wirtschaftssanktionen gegen Staaten nicht mitzutragen. Die "Brotsperre", wie Blocher sie unter Bezug auf den Reformator Zwingli nennt, sei nicht nur die "grausamste Waffe" im Krieg, schließlich würden Menschen gezielt "ausgehungert". Sie sei auch grundsätzlich unwirksam und beeindrucke Präsident Wladimir Putin offensichtlich nicht im Mindesten, sondern stärke ihn sogar noch. Für die Schweiz wiederum entstehe ein unnötiges Bedrohungspotenzial, weil sie selber "Kriegspartei" geworden sei. Lieber solle das Land seine "guten Dienste" anbieten und in dem Konflikt vermitteln.

"Die Neutralität hilft mit, einen Feind nicht zu reizen", argumentiert Blocher und verweist auf die Geschichte: Nach dem Ersten Weltkrieg habe die Schweiz diesen Grundsatz missachtet, als sie dem Völkerbund beitrat und versprach, die Sanktionen gegen Italien nach dessen Überfall auf Abessinien mitzutragen. Ein italienischer Einmarsch im Tessin sei nur durch den Zerfall des Völkerbunds vermieden worden. Dass man sich mit einer unparteiischen Haltung den Unmut der Kriegführenden zuziehe, sei zu akzeptieren, sagt Blocher. "Der neutrale Staat hat nicht nur Vorteile, auch für die Wirtschaft."

Wie immer, wenn ihm etwas wichtig ist, versucht Blocher nun, die Regierung, in der auch seine Partei vertreten ist, mithilfe des Volks zu korrigieren. Ende Mai lud er zu einem "Neutralitätsworkshop" in den Zürcher Hauptbahnhof ein, man besprach den Text der geplanten Initiative. Mit dabei: alte SVP-Mitstreiter wie Ulrich Schlüer und Christoph Mörgeli, parteiungebundene Interessierte sowie, typisch Blocher, in Gestalt des Grünliberalen Nicola Forster auch eine potenzielle Gegenstimme - um die eigene Position zu klären.

Das Ergebnis: Die Volksinitiative würde neben einem Bündnisverbot jegliche Beteiligung an Sanktionen untersagen, bis auf jene, die die Vereinten Nationen beschließen (was die Veto-Mächte im Sicherheitsrat meist blockieren). Sie soll demnächst eingebracht werden. Derzeit befürwortet die große Mehrheit der Schweizer grundsätzlich die Neutralität. Bis zur Abstimmung werden aber drei bis vier Jahre vergehen. Das sei riskant, gaben einige im Bahnhof zu bedenken. Was, wenn der Ukraine-Krieg dann noch andauert, die Stimmung kippt und das Votum verloren geht? Und damit das ganze Konzept der Neutralität beschädigt würde? Wer nichts riskiert, gewinne nichts, soll Blocher erwidert haben.

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