Süddeutsche Zeitung

Regierungsbildung:Merkels Ohnmacht

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Die Kanzlerin muss zusehen, wie Sozialdemokraten über ihre Zukunft entscheiden. Und sie muss sich bereits der Frage erwehren, ob Deutschland einen jüngeren Regierungschef bräuchte.

Kommentar von Robert Roßmann, Berlin

Die Bundeskanzlerin ist so lange im Amt wie alle sechs Staats- und Regierungschefs der restlichen G-7-Staaten zusammen. So jemand hat in seinem politischen Leben schon in manchen Abgrund geschaut. Über Angela Merkel sind bereits dermaßen viele Kanzlerinnendämmerungsartikel geschrieben worden, dass sie, zu Büchern gebunden, Karl Mays gesammelten Werken im Umfang kaum nachstünden. Es gilt also, vorsichtig mit düsteren Prognosen zu sein. Und doch kann man gefahrlos sagen, dass Merkel jetzt in die gefährlichste Lage ihrer gesamten Amtszeit geraten ist.

Die Kanzlerin muss ohnmächtig zusehen, wie Sozialdemokraten über ihre Zukunft entscheiden. Wenn der SPD-Parteitag am Sonntag Verhandlungen über eine große Koalition ablehnt, ist auch die letzte Chance Merkels auf eine Mehrheit im neuen Bundestag vergeben. Und die Kanzlerin könnte anschließend noch nicht einmal frei darauf reagieren. Es ist der Bundespräsident, der allein entscheiden darf, wann er dem Bundestag jemanden zur Wahl als Regierungschef vorschlägt. Es ist auch nicht an Merkel zu entscheiden, ob es zu einer Minderheitsregierung oder zu Neuwahlen kommt. Auch das fällt in die Macht des sozialdemokratischen Herrn Steinmeier.

Und so ist es kein Wunder, dass die CDU-Spitze voller Sorge vor einem Nein des SPD-Parteitags auf den Sonntag wartet. Nichts ist für einen Regierungschef so riskant, wie als ohnmächtig wahrgenommen zu werden. Und kaum etwas ist unangenehmer, als vor aller Augen bei Kanzlerwahlen durchzufallen. Merkel müsste sich trotz fehlender absoluter Mehrheit im Parlament aber mindestens zweimal einer Kanzlerwahl stellen, bevor es zu einer Neuwahl kommen kann. So sieht es das Grundgesetz vor. Derzeit hat Merkel zwar noch passable Umfragewerte. Aber derlei kann sich in diesen politisch volatilen Zeiten schnell ändern, erst recht, wenn man sich im Bundestag vorführen lassen muss. Selbst wenn der SPD-Parteitag Verhandlungen billigen sollte, hat Merkel wegen der waidwunden SPD noch einen riskanten Weg vor sich.

Falls die SPD am Sonntag aber eine neue große Koalition ablehnt, werden vor allem zwei Fragen über die Zukunft Merkels entscheiden: Wer war schuld am Scheitern der Regierungsbildung? Und welche Konsequenz ziehen die Bürger daraus? Sehnen sie sich wegen der unklaren Lage nach Stabilität, oder glauben sie, dass wegen der verfahrenen Lage jetzt ein Aufbruch nötig ist?

Die SPD strickt bereits an der Erzählung, Merkel sei in der Union wegen all der Jens Spahns und Alexander Dobrindts dermaßen unter Druck, dass sie bei der Sondierung nicht in der Lage gewesen sei, der SPD die für eine Koalition nötigen Konzessionen zu machen. Anders sei gar nicht zu erklären, dass Merkel in der Flüchtlingspolitik dermaßen hart geblieben sei - und dass sie der SPD nicht einmal ein Ende der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen zugestanden habe, von einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes ganz zu schweigen. Spahn, Dobrindt und deren Freund Christian Lindner würden längst hinter dem Rücken der Kanzlerin ihr eigenes Spiel betreiben. Schuld an einem Scheitern einer Regierungsbildung wären also die Union und Merkels schwindende Autorität.

Das Bild einer Kanzlerin, die wie Gulliver gefesselt ist, ist falsch. Doch ihre Spielräume sind enger geworden

Das ist eine Erzählung, die - wenn sie verfängt - für Merkel gefährlich werden könnte. Und tatsächlich ist die Kanzlerin nicht mehr in der kommoden Lage von vor vier Jahren. Damals war sie im Zenit ihrer Macht. Sie konnte der SPD den Mindestlohn, die Rente mit 63 und vieles mehr zugestehen, ohne sich Sorgen über Unmut in der CDU machen zu müssen.

Doch das Bild einer parteiintern wie Gulliver gefesselten Kanzlerin ist trotzdem falsch. Richtig ist zwar, dass Merkels Spielraum kleiner geworden ist. Aber gerade weil die SPD derzeit so ein unsicherer Kantonist ist, musste Merkel bei der Sondierung auch aus eigener Überzeugung penibel darauf achten, dass die CDU keine Konzessionen macht, die ihr bei einer Neuwahl vor die Füße fallen. Merkel wird in einem Wahlkampf nur dann Stimmen von FDP und AfD zurückholen können, wenn sie wirtschaftsliberale Wähler und Verfechter einer harten Flüchtlingspolitik nicht ohne Not verprellt. Außerdem kann Merkel darauf verweisen, dass der SPD-Chef das Sondierungsergebnis als "hervorragend" gepriesen hat. Wie kann die SPD da noch glaubwürdig der CDU die Schuld am Scheitern zuschieben?

Viel gefährlicher für die Kanzlerin könnte die zweite Frage werden. Wenn sich die Bürger nach einem Scheitern der Regierungsbildung nach Stabilität sehnen, wäre Merkel die ideale Kanzlerkandidatin. Doch ein Scheitern könnte auch zu einem Überdruss am gesamten politischen Personal und all den quälend langen Prozessen in den Parteien führen. Schon jetzt schauen viele voller Neid nach Frankreich oder nach Österreich - je nach politischer Überzeugung. Emmanuel Macron ist mehr als 20 Jahre jünger als Merkel, Sebastian Kurz sogar gut 30. Beim Besuch des österreichischen Kanzlers in Berlin musste sich Merkel bereits der Frage erwehren, ob Deutschland nicht auch einen jungen und dynamischen Regierungschef bräuchte. Merkel antwortete, ihr seien die Jüngeren so "lieb wie die Älteren; irgendwann bemerkt man an sich selbst, dass man mit jedem Tag ein bisschen mehr in Richtung des Älteren hinüberrutscht, das gehört einfach zum Leben dazu".

Wenn der SPD-Parteitag gegen Koalitionsverhandlungen stimmt, wenn die Deutschen auf einmal Veränderung attraktiver als Stabilität finden und wenn sich in der CDU ausnahmsweise mal ein paar Putschisten finden, dann könnte Merkel in den kommenden Monaten ziemlich schnell in Richtung Rente "hinüberrutschen". Aber das sind vermutlich mindestens zwei Wenns zu viel. Merkel mag also in ihrer bisher gefährlichsten Lage sein. Nach Lage der Dinge wird sie aber auch am Ende dieses Jahres noch Kanzlerin sein.

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SZ vom 20.01.2018
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