Süddeutsche Zeitung

Politik:Die Kraftlosen

Lesezeit: 4 min

Wie kann das sein: Den Zahlen nach geht es der Bundesrepublik Deutschland eigentlich ganz gut. Der großen Koalition unter Angela Merkel allerdings nicht. Was Union und SPD tun müssten, wenn die beiden Parteien das Land weiterhin regieren wollen.

Von Cerstin Gammelin

Jetzt mal ehrlich: Wer hätte vor zehn Jahren darauf gewettet, dass in der Bundesrepublik des Jahres 2019 nahezu Vollbeschäftigung herrscht? Und dass gleichzeitig die Autobauer dramatisch schwächeln? Oder dass nach 14 Jahren unter Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre CDU erstmals darüber nachzudenken hat, ob sie in einem Bundesland mit den Linken zusammenarbeiten kann? Die Londoner Buchmacher hätten ihre Freude daran.

Und nun das: In dem großen, politisch stabilen und wirtschaftlich prosperierenden Land mitten in Europa ist einiges in Bewegung geraten; Deutschland wird ökologisch, wirtschaftlich und politisch neu vermessen; immer mehr Bürger fragen sich, wie gut die große Koalition diesen schwierigen Prozess überhaupt gestalten kann. Entscheidet sie noch - oder verwaltet sie nur?

Nimmt man die Wahlergebnisse als Antwort, dann ist das Vertrauen der Bürger in die regierenden Parteien deutlich geschwunden. CDU, CSU und SPD haben seit der Bundestagswahl 2017, als es noch zusammen eine Mehrheit gab, viele Stimmen verloren. Zuletzt, bei der Landtagswahl Ende Oktober in Thüringen, reichte es nicht mal mehr für eine Koalition der traditionellen Parteien CDU, SPD, Grüne und FDP.

Die Regierungschefin will mit den innenpolitischen Querelen nichts zu tun haben

Der politische Umbruch wird jenseits der Grenzen begleitet von geopolitischen Krisen und Handelskrieg, ausgelöst von langjährig Verbündeten. Wie dunkle Wolken zeichnen sich am Horizont die Konsequenzen ab: Kriege bedeuten noch mehr Flüchtlinge. Neue Zölle führen zu größerer Unsicherheit, sie lassen Investoren zögern und stoppen das Wachstum .

Die große Koalition steckt tief drin im Schlamassel.

Wie deutlich aber die deutsche Regierungschefin zeigt, dass sie mit den innenpolitischen Querelen nichts zu tun haben will: Während sich die CDU am Montag nach der Schlappe in Thüringen zerlegt, lässt sich Angela Merkel von "Mario" galant über den blauen Teppich führen. Der scheidende Präsident der Europäischen Zentralbank hat die Kanzlerin an der Tür seines Turms in Frankfurt am Main abgeholt; Merkel schreitet entspannt winkend auf Emmanuel Macron zu - der einen persönlichen Gruß darbietet: zur Merkel-Raute geformte Hände. Die Staatenlenker hören klassische Musik, Verdi, Streichquartett e-Moll, bevor sie Draghi in die Reihe großer europäischer Italiener verabschieden: Alcide De Gasperi und Altiero Spinelli.

Dass in Berlin derweil die Parteifreunde übereinander herziehen, scheint Merkel nicht zu beunruhigen. Vielleicht, weil sie diese Kämpfe vor gut zehn Jahren schon gekämpft und gewonnen hat. Jetzt sind ihre Nachfolger dran, sich mit den alten Rivalen auseinanderzusetzen. Vor allem mit Friedrich Merz, dem ewigen Zweiten in der CDU, der der Bild diktieren wird, das Erscheinungsbild der Groko sei "grottenschlecht", und von Führung sei auch nichts zu bemerken. Sie weiß, dass andere zurückkeilen werden. Die CDU ist mit sich selbst beschäftigt. In der taz wird von der "Sozialdemokratisierung der CDU" zu lesen sein: "Verlieren, stänkern, Chefin absägen".

Die SPD hat das genauso mit Andrea Nahles gemacht und ist noch beschäftigt, sich eine neue Spitze zu suchen.

Wird noch regiert in Deutschland?

Aus Sicht der Bundeskanzlerin schon. Ein enger Kalender, sie fährt nach Zwickau, um die Demokratie zu stärken. Oder nach Indien, um der Wirtschaft ein paar Türen zu öffnen. Und eben nach Frankfurt, um den Retter des Euro zu verabschieden - am Tag, an dem die CDU über die Linke redet.

Man kann argumentieren, dass dieser Termin lange geplant war. Und dass es Draghi war, der 2012 die gemeinsame Währung mit den berühmten drei Worten "Whatever it takes" gerettet hat. Der Tag des Abschieds von Draghi ist der einzige Moment, an dem Merkel und Macron Danke sagen können, ohne die Unabhängigkeit der Notenbank öffentlich zu gefährden.

Als Draghi, Merkel und Macron in Frankfurt klassischer Musik lauschen, da kann man spüren, dass dieser Moment symbolisch ist. Auch für die deutsche Politik der vergangenen Jahre.

Merkel hat es laufen lassen. Sie hat Draghis expansive Geldpolitik im europäischen Interesse unterstützt - vertraulich. Sie hat es versäumt, den Bürgern, die sich vom traditionellen Vorsorgesparen verabschieden mussten, Alternativen anzubieten. Merkel hat nichts erklärt, nichts vorgeschlagen. Sie hat in Kauf genommen, dass sich der Unmut gegen "den Italiener" und Europa richten könnte. Sie habe "mit zwei Zungen gesprochen", kritisieren Ökonomen.

Die eingeübte Rivalität von SPD und CDU nimmt sich zunehmend lächerlich aus

Draghis Abschied markiert zugleich das Ende der Merkel'schen Doppelzüngigkeit. Weil seine Nachfolgerin im Amt, die Französin Christine Lagarde, eine brillante Kommunikatorin ist, wird jetzt mehr geredet werden. Lagardes erster Auftritt ist ein Signal - in Berlin, zu Ehren ihres langjährigen Freundes Wolfgang Schäuble.

Und auch Merkels Abschied steht bevor. Noch maximal 22 Monate, dann will sie aus dem Kanzleramt ausziehen; fast noch in der Einarbeitungszeit von Lagarde.

Wie gut hat Merkel mit ihren Koalitionen das Land regiert? Die Zahlen sind gut. Im Vergleich zum Ende der Ära von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Jahre 2005 hat sich die Arbeitslosigkeit mehr als halbiert. Ja, Merkels Regierungen haben von den Reformen der Schröder-Regierung profitiert. Während der großen Finanzkrise 2008 hat die damalige große Koalition mit gezielten Arbeitsmarktmaßnahmen vermieden, dass Unternehmen ihre Arbeitskräfte erst entlassen und dann neu suchen mussten. Die Bundesrepublik kam gut aus der Krise; ein zehnjähriger Daueraufschwung folgte. Die weltweit viertgrößte Volkswirtschaft avancierte zur Wirtschaftslok, die in Europa zahlreiche Staaten mit- und viele europäische Arbeitskräfte anzog. Dass die Bundesregierung 64 Milliarden Euro an Steuergeld zur Rettung deutscher Banken wegen der dort liegenden Pensionsfonds und Versicherungen zahlen musste, fiel nicht auf. Als 2015/16 eine Million Flüchtlinge kam, investierte die Groko zweistellige Milliardenbeträge, ohne dafür zusätzliche Schulden zu machen.

Gerade hat der Bundesfinanzminister wieder Überschüsse; die Konjunktur aber schwächt sich ab. Vor allem, weil die Autobranche im Umbruch ist nach dem Abgasbetrug und wegen des Rufs nach Öko-Fahrzeugen. Und wegen des Handelskriegers im Weißen Haus, und wegen des Brexit.

Die neue deutsche Normalität ist komplexer und komplizierter. Probleme lassen sich nicht mehr primär mit Geld lösen, weil traditionelle Strukturen verschwimmen. Dass die AfD in ostdeutschen Landtagswahlen zuverlässig mehr als ein Fünftel der Stimmen bekommt (und zwar egal, welchen Kandidaten sie aufstellt), zeigt, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung daheim verteidigt werden muss. Der Streit in der CDU ist ein Zeichen dafür, wie stark das an alten Überzeugungen rüttelt. Die eingeübte Rivalität von SPD und CDU nimmt sich zunehmend lächerlich aus, wenn die beiden Parteien zusammen nur ein gutes Drittel der Stimmen vereinen. Wollen sie das Land weiter regieren, müssen sie wieder mehr Menschen überzeugen. Oder sich für Bündnisse mit anderen demokratischen Parteien öffnen. Und das besser heute als morgen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4658928
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 07.11.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.