Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Bereit, sich unbeliebt zu machen

Lesezeit: 4 min

Premierministerin Liz Truss legt los: Sie senkt im großen Stil die Steuern, um das Wachstum anzukurbeln. Kann das gut gehen?

Von Alexander Mühlauer, London

Es ist schon erstaunlich, dass Boris Johnson nie auf diese Idee gekommen ist, aber nun ist es zu spät. Sein großes Vorbild Winston Churchill hatte 1932 das Empire State Building besucht, auch wenn er da noch nicht Regierungschef war. Ein britischer Premier war seitdem nicht dort. Das sollte sich in dieser Woche ändern. Liz Truss reiste zur UN-Generalversammlung nach New York und machte es wie einst Churchill: Sie stellte sich im Empire State Building vor die Kameras, hinter ihr die Wolkenkratzer von Manhattan. Perfekte Bilder, perfekte Botschaft, wäre da nur nicht dieser Tweet von Joe Biden gewesen.

Der US-Präsident hatte vor dem ersten Vier-Augen-Gespräch mit der neuen Premierministerin via Twitter mitgeteilt, dass er die Nase voll habe von der sogenannten Trickle-down-Ökonomie, schließlich habe das noch nie funktioniert. Mit trickle-down economics meinte Biden eine von den Republikanern favorisierte Wirtschaftspolitik, die davon ausgeht, dass der Wohlstand der Reichsten nach und nach auch in den unteren Schichten der Gesellschaft durchsickert, wenn die Vermögenden ausgiebig konsumieren und investieren.

Im Amerika der 1980er-Jahre hatte Ronald Reagan vor allem mit Steuersenkungen versucht, diesen Effekt zu erzielen. In Großbritannien nahm sich Margaret Thatcher ein Beispiel. Und genau daran will Truss nun wieder anknüpfen. Ganz anders als Biden. Sein Tweet war zwar nicht auf Truss gemünzt, sondern auf Kritiker im republikanischen Lager, trotzdem wurde mehr als deutlich, dass die beiden eine grundlegend andere Sichtweise haben, was gute Wirtschaftspolitik ausmacht. Mal ganz davon abgesehen, dass der Zeitpunkt des Tweets für Truss maximal unglücklich war, wollte sie doch ihren Auftritt in New York nutzen, um auf der Weltbühne für ihre Überzeugungen zu werben.

Truss stand also im Empire State Building und sagte, ihr sei durchaus bewusst, dass ihre Steuersenkungspläne vor allem den Wohlhabenden zugutekämen. Aber tax cuts seien nun mal nötig, um das zu erreichen, was Großbritannien nun dringend brauche: Wachstum. Gerade jetzt in der Energiekrise. Auf die Frage, ob sie darauf vorbereitet sei, sich damit unbeliebt zu machen, sagte sie: "Ja, das bin ich."

Viel Zeit hat Truss nicht, in zwei Jahren wird das Parlament neu gewählt

Eine Regierungschefin, die bereit ist, unpopulär zu sein, das gab es in Großbritannien schon länger nicht mehr. Und wenn man jetzt an Margaret Thatcher denkt, die Eiserne Lady, dann dürfte das durchaus im Sinn von Liz Truss sein. Anders als ihr Vorgänger Boris Johnson ist die neue Premierministerin grundsätzlich gewillt, Entscheidungen zu treffen, die in weiten Teilen der Bevölkerung nicht so gut ankommen. Sie versucht damit eine Stärke und Geradlinigkeit zu demonstrieren, die Johnson fast gänzlich fehlte.

Viel Zeit hat Truss nicht, bereits in zwei Jahren wird ein neues Parlament gewählt. Und so ist es kein Wunder, dass sie sofort Tempo macht. Nach ihrer Wahl zur Tory-Parteivorsitzenden am 5. September legte sie gleich drei Tage später ein gewaltiges Hilfspaket vor, mit dem ihre Landsleute durch die Energiekrise kommen sollen. Kern des Pakets ist ein Preisdeckel für Strom und Gas. Für zwei Jahre, also bis zur nächsten Wahl, werden die Preise auf einem staatlich festgelegten Niveau eingefroren, um die Bürger zu entlasten.

Wenige Stunden nachdem Truss ihr Paket im Unterhaus vorgestellt hatte, kam die Nachricht vom Tod der Queen. Für die Premierministerin bedeutete das: Sie hatte nun mit einem Schlag eine ganz andere Rolle. Während der zehntägigen Trauerphase stand der politische Betrieb in Westminster still. Truss war stattdessen bei Trauergottesdiensten, hatte Audienzen mit König Charles III., beim Staatsakt in der Westminster Abbey las sie aus dem Johannes-Evangelium.

Nach dem Begräbnis von Elizabeth II. flog Truss nach New York. Dort traf sie nicht nur Biden und andere Staats- und Regierungschefs, dort hielt sie auch ihre erste Rede als Premier vor der UN-Generalversammlung. Truss bekräftigte ihre Entschlossenheit, die Ukraine im Kampf gegen Russland weiter zu unterstützen, vor allem auch mit Waffen. Zumindest bei diesem Thema herrscht zwischen Truss und Biden Einigkeit. Im 75-minütigen Gespräch der beiden ging es neben der Ukraine und der Energiekrise noch um die Frage, warum der Nordirland-Streit zwischen Brüssel und London noch immer köchelt. Dem Vernehmen nach strebt Truss nun bis zum 25. Jahrestag des Karfreitagsabkommens im April 2023 eine Lösung an, mit der alle leben können.

Zurück in London machte Truss dort weiter, wo sie im Empire State Building aufgehört hatte. Am Freitag saß sie auf der grünen Bank im Unterhaus und hörte durchaus genüsslich zu, wie Finanzminister Kwasi Kwarteng das nächste Entlastungspaket vorstellte, genannt "The Growth Plan". "Das Wachstum ist nicht so hoch, wie es sein sollte", sagte Kwarteng. Um aus dem "Teufelskreis der Stagnation" herauszukommen, werden nun die Steuern im großen Stil gesenkt. Von April 2023 an soll der Steuersatz für Jahreseinkommen über 150 000 Pfund von 45 auf 40 Prozent sinken; der niedrigere Basissteuersatz wird von 20 auf 19 Prozent reduziert. Laut Wirtschaftsforschern handelt es sich um die größten Steuersenkungen seit 1972, geschätztes Gesamtvolumen: 45 Milliarden Pfund, etwa 51 Milliarden Euro.

Die Obergrenze für Banker-Boni soll weg - um Banken anzulocken

Ob das Vorhaben funktioniert, ist unter Ökonomen umstritten. Kritiker des Plans warnen davor, dass die Inflation wegen der Steuersenkungen weiter steigen könnte. Der Grund: Geben die Menschen wieder mehr Geld aus, steigt damit die Konsumnachfrage, was wiederum zu höheren Preisen führt. Doch davon will die Regierung nichts wissen. Sie setzt voll und ganz auf Wachstum. Und so wird die von Johnson geplante Erhöhung der Körperschaftsteuer gestrichen. Auch die Sozialversicherungsbeiträge werden wieder gesenkt. Wer ein Haus oder eine Wohnung kauft, muss künftig weniger Steuern zahlen.

Und dann kündigte Kwarteng noch einen sogenannten Brexit-Benefit an: Die von der EU verhängte Obergrenze für Banker-Boni soll gestrichen werden. "Wir brauchen globale Banken, die hier Jobs schaffen, hier investieren und hier in London Steuern zahlen, nicht in Paris, nicht in Frankfurt und nicht in New York", sagte der Finanzminister.

Ökonomen schätzen, dass all diese Entlastungsmaßnahmen bis zu 200 Milliarden Pfund (230 Milliarden Euro) kosten. Die Staatsverschuldung könnte also stark steigen. Truss und Kwarteng waren jedenfalls in dieser Woche sehr bemüht, den Finanzmärkten zu versichern, dass die Schulden Großbritanniens nicht aus dem Ruder laufen. Am Freitag gab es zumindest eine erste Reaktion auf das Paket der Regierung in London: Der Kurs des britischen Pfunds fiel gegenüber dem US-Dollar auf den tiefsten Stand seit 1985.

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