Süddeutsche Zeitung

KZ-Überlebende Vidláková:"Scham bedeutet, sich zuständig zu fühlen"

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Michaela Vidláková durchlitt das KZ Theresienstadt. Ein Gespräch über die Reaktionen deutscher Schüler auf Holocaust-Opfer und die Vertreibung der Sudetendeutschen.

Oliver Das Gupta

Michaela Vidláková kommt 1936 als Michaela Lauscherová in Prag zur Welt. Drei Jahre später marschieren deutsche Truppen ein - die Tschechoslowakei existiert nicht mehr. Es ist der Beginn einer furchtbaren Leidenszeit für jüdische Familien wie die Lauschers: Zunächst werden sie entrechtet und mit Verboten schikaniert, schließlich deportiert man sie in das Konzentrationslager Theresienstadt. "Vorzimmer des Todes" nennt Vidláková das Ghetto, in dem sie zweieinhalb Jahre in Elend, Hunger und ständiger Angst ums Überleben zubringen musste. In Theresienstadt lernt sie die deutsche Sprache von einem Jungen aus Berlin. Seine Spur verliert sich in Auschwitz. Die Lauschers haben Glück im Unglück: Der Vater gilt als wertvoller Handwerker, deshalb wird die Familie nicht in einem der vielen Züge nach Osten "evakuiert" - in die Vernichtungslager.

Nach dem Krieg beginnen sich Vidlákovás Eltern Irma Lauscherová und Jiří Lauscher intensiv für Erinnerungsarbeit einzusetzen. Bereits Anfang der 1960er Jahre sind sie von den Deutschen, und zwar von den Mitgliedern der Aktion Sühnezeichen, als eine der ersten Juden in der Tschechosowakei kontaktiert worden. So begann die jahrelange Zusammenarbeit. Vidláková führt das Lebenswerk ihrer Eltern fort. Sie engagiert sich unter anderem bei Aktion Sühnezeichen und in der tschechisch-deutschen Stiftung Brücke/Most . Dafür wird sie im November 2009 mit dem Lothar-Kreyssig-Friedenspreis ausgezeichnet. Michaela Vidláková lebt nach wie vor in Prag, dort hat sie als promovierte Naturwissenschaftlerin gearbeitet, dort findet auch das Gespräch statt.

sueddeutsche.de: Frau Vidláková, nach dem Krieg wollten Sie nicht mehr Deutsch sprechen und nicht mehr mit Deutschen Kontakt haben - im Gegensatz zu Ihren Eltern, die bereit waren, mit den Deutschen Kontakt aufzunehmen. Was hinderte Sie daran?

Michaela Vidláková: Die Deutschen waren für mich bis in die siebziger Jahre die Täter, die Mörder. Von politischer Seite her kam auch wenig, kein Eingeständnis der historischen Schuld. Willy Brandt war mit seinem Kniefall in Warschau die große Ausnahme, aber er hatte ja von Beginn an gegen die Nazis gekämpft.

sueddeutsche.de: Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

Vidláková: Meine Eltern und vor allem Lothar Kreyssig haben mich überzeugt, dass es nun eine neue Generation ist, die natürlich keine Schuld für die Vergangenheit hat.

sueddeutsche.de: Lothar Kreyssig hatte als einziger deutscher Richter die Euthanasiemorde der Nazis angeprangert und Juden versteckt. Nach dem Krieg engagierte er sich in der evangelischen Kirche und gründete die Aktion Sühnezeichen.

Vidláková: Kreyssig und meine Eltern sagten sinngemäß: Schau, nun kommen die ersten Schwalben, ausgerechnet die, die nichts getan haben, zeigen Reue, wollen aufarbeiten und versöhnen. Es wurde mir klar: 80 Millionen Deutsche werden es nicht sein, aber wenn es ein paar Tausende sind, dann sollte man sie unterstützen.

sueddeutsche.de: Sie arbeiten nun viel mit deutschen Schülern. Wie reagieren die jungen Leute auf Sie, das NS-Opfer?

Vidláková: Ein Freund von mir, der sechs KZ überlebt hatte und auch an Schulen ging, hat die Erfahrung gemacht, dass die Schüler zurückweichen, so, als ob Sie Angst vor Berührung hätten. Er sagte dann: Ihr tragt keine Schuld. Ihr tragt jetzt aber die Verantwortung für die Zukunft. Das sage ich den Schülern inzwischen auch. Viele schämen sich trotzdem. Das ist eine normale Reaktion und sie ist richtig: Scham bedeutet, sich zuständig zu fühlen. Und wenn man sich zuständig fühlt, wird man dafür sorgen, dass so etwas nicht vergessen wird - und nicht mehr passiert. Dieser grauenhafte schwarze Fleck bleibt in der deutschen Geschichte. Man kann an der Vergangenheit nichts ändern. Also muss man etwas für die Zukunft tun.

sueddeutsche.de: In Ostdeutschland sind neonazistische Tendenzen stark, in zwei Landtagen sitzt die NPD. Haben Sie Sorge, dass Deutschland wieder rechtsextrem abdriftet?

Vidláková: Ich glaube es zwar nicht, aber man darf die Entwicklung auch nicht unterschätzen: Deutschland ist ja schon einmal zur Diktatur verkommen. Adolf Hitler hat klein angefangen und binnen weniger Jahre eine Demokratie abgeschafft. Das könnte wieder passieren. Deshalb würde ich ein Verbot der NPD begrüßen. Die Demokraten sollten nicht mehr lange damit warten, sondern sich wehren.

sueddeutsche.de: Antisemitismus und Vorbehalte gegen Juden sind auch 66 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ein Problem. Haben Sie einen Rat, was man dagegen tun kann?

Vidláková: Neben einer eindeutigen politischen Positionierung ist es vor allem notwendig, dass die Nichtjuden mehr über das Judentum erfahren. Die wenigsten Leute kennen Juden persönlich. Für viele wirkt es so, als ob unsere Religion etwas Geheimnisvolles wäre. Genau das wollten die Nazis ja: Die Juden als minderwertige und verschlagene Rasse darstellen, die Deutschland aussaugt und eine Weltverschwörung plant. Diese Vorurteile durch bessere Kenntnisse zu beseitigen, das ist ein wichtiger Weg im Kampf gegen Antisemitismus.

sueddeutsche.de: Die jungen Deutschen, die Sie kennenlernen, wissen also zu wenig über das Judentum?

Vidláková: So ist es. Oft bin ich der erste jüdische Mensch, den sie treffen. Die Geschichte der Juden in Deutschland besteht nicht nur aus Holocaust. Ich halte es für enorm wichtig, dass gerade die Jugend erfährt, wie sehr deutsche Juden die deutsche Gesellschaft und Wissenschaft geprägt und vorangebracht haben. Die wenigsten jungen Leute wissen, dass Albert Einstein deutscher Jude war. Im Ersten Weltkrieg sind überdurchschnittlich viele deutsche Juden gefallen, sie starben für ihr Vaterland. Vor der Nazi-Zeit waren die Juden ein selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft - hier in Prag war das nicht anders. Diese historische Phase muss den jungen Menschen genauso nähergebracht werden. Solche Aussöhnungs- und Geschichtsarbeit wird von Vereinen ermöglicht, die der deutsche Staat intensiver fördern sollte. Leider werden Zuschüsse eher gestrichen - ich halte das für einen großen Fehler.

sueddeutsche.de: Zu den geschichtlichen Ereignissen, die uns in der Gegenwart beschäftigen, gehören auch die Vertreibungen der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Krieg. Wie sehen Sie dieses Thema, das immer wieder für Aufregung sorgt?

Vidláková: Bei diesen Vertreibungen gab es leider unschöne Ereignisse, aber man darf dabei nie die Vorgeschichte vergessen! Es war ja nicht so, dass die Tschechoslowakei vor dem Krieg die tschechische Deutschen feindlich behandelt hat. Nicht umsonst flohen nach der Machtergreifung Hitlers 1933 viele deutsche Nazi-Gegner nach Prag, um von hier aus für Demokratie zu kämpfen. Prag blühte seit jeher, gerade weil es hier ein Miteinander von tschechischer, deutscher und jüdischer Kultur gegeben hat. Die Sudetendeutschen waren tschechoslowakische Bürger, aber sie wollten vor dem Krieg unbedingt zu Hitlers Reich gehören, fast ausnahmslos. Als Ausnahme unter ihnen gab es meistens nur die deutschen Sozialdemokraten.

sueddeutsche.de: Die erzwungene Abgabe des Sudetenlandes von der Tschechoslowakei an Deutschland wurde auf der Münchner Konferenz 1938 auch von Frankreich und Großbritannien beschlossen, um Hitlers Expansionsdrang zu beschwichtigen - Prag wurde nicht gefragt.

Vidláková: Das war ein großer Verrat von London und Paris, wir haben das nicht vergessen. Nach diesem traumatischen Erlebnis und der schlimmen deutschen Besatzungszeit wollte die Tschechoslowakei nach dem Krieg auf Nummer sicher gehen - und siedelte die Deutschen um. Das kann man doch nachvollziehen, oder? Es gab eine Vorgeschichte, die darf nicht vergessen werden. Ursache und Folgen sollten nicht verwechselt werden. Das hat ja auch der frühere deutsche Bundespräsident Roman Herzog gesagt. Und die Aussiedlung war sowieso eine Entscheidung der Alliierten, nicht der tschechoslowakischen Regierung.

sueddeutsche.de: Die Sudetendeutschen wurden nicht nur vertrieben, sondern es gab dabei auch Gewaltexzesse, Vergewaltigungen und Massaker. Sollte Tschechien dies nicht aufarbeiten?

Vidláková: Solche Verbrechen sollte man immer aufarbeiten und verurteilen.

sueddeutsche.de: Die Tschechen tun sich damit schwer - können Sie erklären warum?

Vidláková: Es ist eine heikle Sache, weil der Vertriebenenverband mit seiner Präsidentin Erika Steinbach das als Waffe missbraucht. Ich habe das Gefühl, dass die deutschen Verbrechen und die Rolle der Sudetendeutschen verschleiert werden sollen.

sueddeutsche.de: Frau Steinbach würde Ihnen da vehement widersprechen.

Vidláková: Für Frau Steinbach steht offensichtlich die arme sudetendeutsche Großmutter, die mit ihren Enkelkindern nach Bayern fliehen musste, im Mittelpunkt. Meine Oma wurde von den Deutschen weggeschafft - und zwar nach Auschwitz. Das ist doch ein Unterschied, oder?

sueddeutsche.de: Steinbachs Verband repräsentiert bei weitem nicht alle Vertriebenen und deren Nachkommen. Gibt es die Chance auf ein neues Miteinander?

Vidláková: Natürlich! Solange das ohne Forderungen und Hintergedanken passiert. Ich finde es positiv, wenn die ehemaligen Sudetendeutschen dieser anderen Kategorien zu Besuch kommen. Inzwischen kommt es oft vor, dass diese Menschen sich die Orte ihrer Kindheit oder Vorfahren ansehen und sogar zu Gast bei den tschechischen Familien sind, die heute dort leben. Es gibt sogar Deutsche, die dabei helfen, alte Kirchen zu renovieren. Auf diesen zwischenmenschlichen Ebenen muss man beginnen und nicht politisieren. Frau Steinbach tut so, als ob die Vertriebenen auf alles Mögliche Ansprüche hätten.

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