Süddeutsche Zeitung

Brexit:Nett im Ton, hart in der Sache

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Der Streit über die neue Zollbürokratie zwischen Nordirland und Großbritannien spitzt sich zu. London fordert Erleichterungen, damit nicht die Waren in den Supermarktregalen knapp werden. Doch eine Einigung wird schwierig.

Von Björn Finke, Brüssel

Sollte Michael Gove jemals gedacht haben, dass die EU bei diesem Treffen große Zugeständnisse machen wird, dürfte der Brief von Mittwochabend diese Illusion zerstört haben. Der britische Minister tauschte sich am Donnerstagabend in London mit Maroš Šefčovič aus, dem zuständigen Vizepräsidenten der EU-Kommission. Thema waren die Probleme, die das Nordirland-Protokoll mit sich bringt.

Doch am Vorabend hatte der slowakische Kommissionsvize in einem fünfseitigen Schreiben an den "lieben Michael" gefordert, dass die Briten das Protokoll zunächst richtig umsetzen sollten, bevor über mögliche Erleichterungen geredet werden kann.

Das Protokoll zu Irland und Nordirland ist Teil des Austrittsvertrags. Es soll verhindern, dass zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland Zöllner Lastwagen kontrollieren müssen. Denn würde die unsichtbare Grenze wieder sichtbar, könnte das den Friedensprozess in der einstigen Unruheprovinz Nordirland gefährden. Daher schreibt das Protokoll vor, dass sich Nordirland trotz des Brexit weiter an EU-Produktregeln und Zollvorschriften hält. Logische Folge ist aber, dass Warenlieferungen von England oder Schottland nach Nordirland kontrolliert werden müssen. Schließlich kann alles, was in nordirischen Häfen anlandet, danach ohne weitere Kontrollen in die Republik Irland - und damit in den EU-Binnenmarkt - transportiert werden.

Die neue Zollbürokratie führte dazu, dass zu Jahresbeginn einige Waren in nordirischen Supermärkten knapp wurden. Und Anfang April könnten sich diese Probleme verschärfen. Dann endet eine dreimonatige Übergangsphase, während der Spediteure bei Lebensmittel-Lieferungen an nordirische Supermärkte nicht belegen brauchen, dass die Waren EU-Standards genügen.

Der Ärger ist umso heikler für Boris Johnson, weil der britische Premier einst versprochen hat, dass keine Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland eingeführt werden. Dass es nun anders ist, erzürnt die Unionisten in Nordirland, also jene politischen Kräfte, denen eine enge Anbindung ans Königreich wichtig ist. Die Polizei fürchtete zwischenzeitlich, gewaltbereite Unionisten könnten Zollbeamte in nordirischen Häfen angreifen. Daher wurden die Kontrolleure abgezogen, doch am Mittwoch traten sie ihren Dienst wieder an - die Drohungen seien nicht glaubwürdig gewesen, heißt es.

Der Lösungsvorschlag der britischen Regierung lautet: mehr Zeit und laxere Regeln. Johnsons treuer Adlatus Gove schrieb daher vor anderthalb Wochen an den "lieben Maroš" Šefčovič, die Übergangsphase müsse "bis mindestens Januar 2023" verlängert werden. Daneben äußerte er weitere Wünsche nach mehr Flexibilität, denn "wir beide sind uns sehr bewusst, dass es eine Reihe drängender Probleme bei der Anwendung des Protokolls gibt".

Das Fatale: Die EU selbst hat die Regelungen in Frage gestellt

Lenke die EU nicht ein, werde die Regierung "in Betracht ziehen, alle zur Verfügung stehenden Instrumente zu nutzen", drohte Gove. Will heißen: London könnte sich auf Artikel 16 des Nordirland-Protokolls berufen. Dieser Notfall-Paragraf erlaubt es, Regelungen außer Kraft zu setzen, wenn sie zu "schwerwiegenden Schwierigkeiten" führen.

Das Fatale aus Brüsseler Sicht: Es war ausgerechnet die EU-Kommission, die erstmals die Verwendung von Artikel 16 ins Spiel gebracht hatte. Wenige Tage vor Goves Brief verabschiedete die Behörde eine Genehmigungspflicht für den Export von Corona-Impfstoffen. Zunächst hieß es in dem Rechtsakt, dass Artikel 16 angewandt werden solle, damit die EU besser nachvollziehen kann, ob Firmen Vakzine von der Republik Irland nach Nordirland ausführen.

Nach einem Proteststurm entfernte die Kommission schnell wieder den Bezug auf Artikel 16 in der Regelung. Trotzdem ermuntert dieser Lapsus die Unionisten in Nordirland und die britische Regierung, selbst mit dem Notfall-Artikel zu drohen.

Der Brief, den Kommissionsvize Šefčovič nun an Gove schickte, macht aber deutlich, dass er das Protokoll nicht aufweichen will: Bevor geprüft werden könne, ob die geforderten Erleichterungen "nötig und gerechtfertigt" sind, müsse London das Protokoll erst einmal "komplett und genau" umsetzen, schreibt der Slowake. So seien die Kontrollposten an den Häfen nicht voll einsatzfähig, und anders als vereinbart hätten EU-Beamte keinen Zugang zum Computersystem des britischen Zolls. Im Übrigen sei eine Voraussetzung für mehr Flexibilität, dass sich Großbritannien verpflichte, weiter die entsprechenden EU-Produktstandards zu beachten. Kein Zweifel: Der liebe Michael und der liebe Maroš haben noch einiges zu bereden.

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