Süddeutsche Zeitung

Hilfe für Syrien:In Syriens Nachbarländern kippt die Stimmung

Lesezeit: 4 Min.

Von Paul-Anton Krüger und Luisa Seeling

Es sind riesige Zahlen. Millionen Menschen, Millionen Schicksale, Millionen Leiden. Millionen Nächte in kalten Zelten, Millionen Tage ohne Frühstück. Es sind Zahlen, die man im Westen schon lange kennt, und auf die man mit ein paar Milliarden Euro reagiert hat. Aber auch mit ein paar Millionen Mal wegschauen.

4 607 686 Syrer sind als Flüchtlinge bei den UN registriert. Das sind so viele Menschen, wie zusammengenommen in Sachsen und Bremen leben. Wahrscheinlich haben deutlich mehr ihr Heimatland verlassen. 6,5 Millionen Menschen sind zudem innerhalb Syriens vertrieben worden, aus ihren Häusern, Städten und Dörfern, mehr als die Bevölkerung von Hessen.

Menschen verhungern und erfrieren

Im vergangenen Jahr hatte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR um 7,2 Milliarden Dollar gebeten, um den Menschen in Syrien zu helfen und jenen, die außer Landes geflohen sind. Davon haben die Helfer nach eigenen Angaben gerade einmal 52 Prozent bekommen. UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming sagte der Süddeutschen Zeitung: "Wir haben zum Jahresende noch einige Zusagen erhalten, die uns ermöglicht haben, Winterhilfe zu leisten, um zu verhindern, dass Menschen erfrieren." Die Lage habe sich aber nicht grundlegend geändert. Für 2016 rechnen die UN sogar mit einem Bedarf von 8,96 Milliarden Dollar - das ist der Maßstab für die Geberkonferenz an diesem Donnerstag in London.

"Noch immer sterben Menschen an Hunger oder frieren zu Tode", sagt die UNHCR-Sprecherin - weil das Regime in Syrien und in geringerem Umfang auch Rebellen humanitäre Hilfe blockierten. Aber auch in den wichtigsten Aufnahmeländern, der Türkei, Libanon und Jordanien, habe die Unterfinanzierung schlimme Folgen.

"Für viele Flüchtlinge heißt das, dass sie im Winter unter miserablen Bedingungen hausen müssen, schlechte Unterkünfte, durch die Regen und Feuchtigkeit eindringen, dass es nur sehr einfache Infrastruktur gibt." Etwa 90 Prozent leben unter der Armutsgrenze, viele haben Schulden, bei Verwandten, die ihnen Geld für die Flucht geliehen haben, bei Vermietern. In Libanon gibt es keine großen Lager wie in Jordanien, die Menschen müssen sich Unterkünfte selbst beschaffen. Auch in der Türkei leben nur zehn bis 15 Prozent der Flüchtlinge in einem der 25 Lager.

Ein Viertel des Staatshaushalts für Flüchtlingshilfe

Diese Länder sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Die Stimmung in Jordanien sei "am Siedepunkt", sagte König Abdallah der BBC. Sein Land beherbergt mehr als eine Million Syrer, schätzt die Regierung. Die UN mussten 2015 allen, die nicht in Lagern leben, die Hilfe streichen. Inzwischen gebe Jordanien 25 Prozent seines Staatshaushalts für Flüchtlingshilfe aus, sagte der König. Bildungs- und Gesundheitssystem seien stark belastet. "Früher oder später droht der Damm zu brechen."

In Libanon ist inzwischen etwa einer von fünf Einwohnern ein Flüchtling aus dem benachbarten Syrien, mehr als eine Million sind offiziell registriert. Kein Land hat relativ zur Bevölkerung mehr Menschen aufgenommen. Die Regierung lehnt es ab, große Lager einzurichten. So leben Syrer, die noch Geld haben, in Wohnungen, die meisten aber hausen in Rohbauten, in Lagerhallen, in aus Plastikplanen und Brettern zusammengezimmerten Unterschlupfen in der Bekaa-Ebene auf 1600 Metern, wo es bitterkalt wird und schneit. Frauen haben darunter besonders zu leiden. Sie seien Vermietern, Arbeitgebern und selbst Polizisten schutzlos ausgeliefert, kritisiert Amnesty International. Viele weibliche Flüchtlinge berichteten, dass ihnen Unterstützung nur als Gegenleistung für sexuelle Dienstleistungen angeboten worden sei.

Kein Land hat in absoluten Zahlen so viele Syrer aufgenommen wie die Türkei, 2,5 Millionen nach offiziellen Angaben, Experten halten 2,2 Millionen Menschen für realistischer, weil zwar weiterhin Menschen kommen, andere aber über Griechenland nach Europa abgewandert sind. Dennoch gab es in der Türkei lange keine Debatte wie in Europa - obwohl das Land 2015 zwei harte Wahlkämpfe erlebt hat. Doch die vergleichsweise gelassene Stimmung kippt; nach neueren Umfragen halten 70 Prozent der Türken die Flüchtlinge für eine wirtschaftliche Belastung und ein Sicherheitsrisiko.

Mit Blick auf die Wahlen wollte lange niemand die unbequeme Einsicht aussprechen, dass die Geflüchteten auf unbestimmte Zeit bleiben und integriert werden müssen. Dass sich das langsam ändert, liegt an der Aufwertung der Türkei zum "Schlüsselland" in der Flüchtlingskrise - und an deren Ausmaß.

Die Syrer genießen sogenannten temporären Schutz, aber kein richtiges Asyl. Die Regierung nannte die Syrer bis vor Kurzem schlicht "Gäste". Die von der türkischen Katastrophenschutzbehörde (Afad) betriebenen 25 Lager gelten als gut ausgestattet, es gibt dort Wasser, Strom, Zugang zu Schulbildung und medizinischer Versorgung. Aber sie reichen bei Weitem nicht aus. 85 bis 90 Prozent der Syrer schlagen sich irgendwie durch, meist in den Großstädten des Landes. Von den 700 000 Kindern im schulfähigen Alter bekommen nur zehn bis 20 Prozent Unterricht.

In der Türkei müssen schon kleine Kinder schuften

Weil die Flüchtlinge nicht legal arbeiten durften, ist ein riesiger Schwarzmarkt an billigen Arbeitskräften entstanden - vor allem im Niedriglohnsektor, als Erntehelfer oder in der Textilindustrie. Auch Tausende Kinder müssen schuften.

Seit Mitte Januar sollen Syrer eine Arbeitsgenehmigung bekommen können - wenn sie offiziell registriert und seit sechs Monaten im Land sind, außerdem darf die Quote der Flüchtlinge zehn Prozent der Belegschaft in Betrieben nicht überschreiten. Die Unzufriedenheit in der einheimischen Bevölkerung steigt dennoch stetig, die Menschen leiden unter Lohndumping, vor allem im Niedriglohnbereich, und unter steigenden Mieten.

Mindestens 7,6 Milliarden Dollar hat die Türkei bisher nach eigenen Angaben für die Flüchtlinge ausgegeben, davon sei nur ein Bruchteil von ausländischen Gebern gekommen, knapp 420 Millionen. Europa hat der Türkei weitere drei Milliarden Euro versprochen, dieses Geld bislang aber nicht überwiesen. Am Mittwochabend gab Italien seinen Widerstand gegen die Zahlung auf. Zumindest diese Hilfe kann nun fließen.

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Quelle:
SZ vom 04.02.2016
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