Brexit:Großbritanniens spektakulärste Gerichtsverhandlung seit Jahrzehnten
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Von Christian Zaschke, London
Zehn Richter und eine Richterin sitzen im Halbkreis auf grünen Stühlen und lauschen Anwälten, die mit monotonen Stimmen auf die Unterpunkte von Unterpunkten hinweisen und dabei in bibeldicken Ordnern blättern. Stundenlang. Tagelang. Im Auditorium haben sich manche Zuhörer ins Land des tiefen Schlafes begeben. So sieht sie aus, die wohl spektakulärste Gerichtsverhandlung, die Großbritannien seit Jahrzehnten erlebt.
Erst auf den zweiten Blick erschließt sich die Dramatik des Verfahrens, denn der britische Supreme Court muss darüber befinden, ob die Regierung den Prozess zum Verlassen der EU in Gang setzen darf, ohne zuvor das Parlament zu befragen. Der High Court hatte entschieden, dass die Zustimmung der Parlamentarier erforderlich ist. Die Regierung von Premierministerin Theresa May hat dieses Urteil angefochten, weshalb nun der Supreme Court als höchste britische Instanz entscheidet. Wie bedeutend der Fall ist, zeigt sich auch daran, dass erstmals sämtliche elf Mitglieder des Gerichts zur Entscheidungsfindung herangezogen werden.
In den Tagen vor der Anhörung gab es aufgeregte Debatten über die Befugnisse des Gerichts. Insbesondere die Daily Mail und der Daily Express, zwei Kampfblätter für den Brexit, insinuierten, die Richter dürften nicht gegen den Willen des Volkes entscheiden, das im Sommer mehrheitlich für den Austritt aus der EU gestimmt habe.
Normalerweise lässt sich der hysterische Express bei dem Thema von niemandem überholen, aber diesmal hatte das Boulevardblatt Mail in puncto Brutalität die Nase vorn, indem es die Richter des High Courts als "Feinde des Volkes" bezeichnete. In den Tagen vor der Anhörung vor dem Supreme Court wies die Mail unermüdlich darauf hin, dass die Richter nicht gewählt seien und damit nicht zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Und der Vorsitzende Lord David Neuberger möge doch bitte zurücktreten, weil seine Ehefrau sich während der Referendumsdebatte in sozialen Medien EU-freundlich geäußert hatte.
Neuberger sagte in seiner Eröffnungsrede, er sei sich der starken Gefühle bewusst, die das Thema bei vielen Menschen auslöse. Er weise jedoch darauf hin, dass es allein um rechtliche Belange gehe und nicht darum, ob das Gericht das Votum für den Brexit für richtig halte. Seit Montag stehen sich beide Seiten gegenüber, an diesem Donnerstag wird die Phase der Argumentation abgeschlossen. Der Supreme Court zieht sich dann zur Beratung zurück und soll Anfang Januar ein Urteil verkünden.
Reine Vertragsänderung oder konstitutioneller Wandel?
Für die Regierung traten Generalstaatsanwalt Jeremy Wright und der Anwalt James Eadie an. Sie argumentieren, die Regierung könne von ihrer Exekutivvollmacht Gebrauch machen. Die Bürger hätten im Juni mehrheitlich für den Brexit gestimmt, und zwar auf der Grundlage eines Gesetzes, das das Parlament verabschiedet habe. Deshalb könne die Regierung den Willen der Bürger umsetzen, ohne das Parlament erneut zu befragen. Theresa May hatte angekündigt, Brüssel bis Ende März auch offiziell vom Austrittswunsch zu unterrichten, was den Beginn einer maximal zwei Jahre währenden Verhandlungsphase einläuten würde.
Für die Gegenseite sprach Lord David Pannick. Die Fondsmanagerin Gina Miller hatte den Prozess mit ihrer Klage ins Rollen gebracht und Pannick angeheuert, einen Anwalt, der in juristischen Kreisen als Star gilt. Er argumentiert, verknappt gesagt, dass der Austritt aus der EU nicht bloß eine Vertragsänderung bedeute, sondern einen konstitutionellen Wandel herbeiführe, weshalb er nicht ohne Zustimmung des Parlaments begonnen werden dürfe. Der Brexit nehme den Briten zum Beispiel fundamentale Rechte, die seit der Übernahme des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Jahr 1972 gelten.
Zudem verwies der Anwalt darauf, dass das Referendum rechtlich nicht bindend sei. Das Parlament hätte dafür sorgen können, dass die Abstimmung verbindlich sei, sagte Pannick, wie es das auch bei anderen Referenden in der Vergangenheit getan habe - zum Beispiel bei der Volksabstimmung über die Abschaffung des Mehrheitswahlrechts im Jahr 2011. Da es dies jedoch in diesem Fall unterließ, obläge es nun eben nicht nur Ministern, sondern dem gesamten Parlament, über die Umsetzung des Votums zu befinden.
Die meisten Rechtsexperten sind der Ansicht, dass sich der Supreme Court dem Urteil des High Courts anschließen wird. Für diesen Fall hat die Regierung angekündigt, im Unterhaus ein "Ein-Zeilen-Gesetz" vorzulegen, das es ihr nach kürzester Debatte erlauben soll, Brüssel rasch zu unterrichten. Es wird erwartet, dass das Parlament dem Gesetz zustimmen würde. Möglich ist allerdings auch, dass das Gericht ein vollständiges Gesetzgebungsverfahren verlangt, was mehrere Lesungen und die Einbindung des Oberhauses bedeuten würde. Dann wäre es womöglich schwierig, den angestrebten Zeitplan einzuhalten.
Aufregung bei der "Daily Mail"
Der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, hatte am Dienstag gesagt, man wolle die Verhandlungen mit London binnen 18 Monaten abschließen, damit das Ergebnis anschließend in den Parlamenten ratifiziert werden könne. Außenminister Boris Johnson reagierte gelassen auf den Vorstoß. Das sei mehr als genug Zeit, sagte er.
Theresa May, die sich auf einer Dienstreise in Bahrain befand, sagte, sie wolle einen "rot-weiß-blauen Brexit", also einen, der Großbritannien nutze. Das britische Parlament gab der Premierministerin am Dienstagabend Rückendeckung für ihren Brexit-Zeitplan. Das ist nicht die Abstimmung, über die der Supreme Court nun befindet, sondern lediglich ein unverbindliches Votum. Im Gegenzug ließen sich die Abgeordneten zusichern, besser darüber informiert zu werden, was in den Verhandlungen mit der EU erreicht werden soll.
Die Daily Mail reagierte auf die Ankündigung Michel Barniers, dass die Verhandlungen eher rasch über die Bühne gehen sollen, erwartungsgemäß weniger gelassen als die Regierung. "Auf welcher Seite steht ihr?", fragte das Blatt am Mittwoch gereizt in die Runde: "Auf der eines feindseligen Franzosen oder auf der der Anhänger des Brexit?"