Gastarbeiter in Katar:Träume in der Wüste
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Von Paul-Anton Krüger, Doha
Abdella ist gerade aufgestanden und hat sein Bett gemacht. Er zieht den braunen Vorhang darum zurück. Mit drei Kollegen teilt der 29-jährige Äthiopier das Zimmer, zusammen haben sie 24 Quadratmeter. Sie werden in einer Stunde mit dem Bus zur Nachtschicht fahren. Das Bad, drei Duschen und drei Toiletten, teilen sie sich mit den Bewohnern zwei anderer, baugleicher Zimmer auf der Etage. Er holt seine Arbeitsuniform aus dem grauen Spind. Sie bauen am Nord-Ast der Red Line, eine der U-Bahnstrecken, die das Rückgrat der Infrastruktur für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar bilden sollen.
Abdella hat Glück, er arbeitet für das staatliche Bahnunternehmen Qatar Rail. Die Unterkunft, ein kleines Dorf aus sandfarbenen Aluminium-Leichtbauten am Rand der Hauptstadt Doha, beherbergt gut 1000 Gastarbeiter aus 19 Nationen. Die Kantine kocht Essen für Inder und Nepaler, für Bangladescher und Thais. Im Aufenthaltsraum läuft Satelliten-TV in den Sprachen der Herkunftsländer. Über die Computerterminals dort können die Arbeiter mit ihren Familien kommunizieren, im Zimmer gibt es W-Lan. Eine Wäscherei kümmert sich um Uniformen und persönliche Wäsche, kostenfrei. Es gibt Friseur und Krankenstation.
Acht Stunden am Tag arbeitet Abdella am Tunnel, wie er berichtet, sechs Tage die Woche. Überstunden werden bezahlt. Als Mechaniker verdient er 4000 Rial im Monat, 930 Euro. "Good Job", sagt er mit einem Grinsen; er bekommt genau das, was ihm versprochen wurde, als er vor einem Jahr in seiner Heimat angeworben wurde.
Würden alle der 1,4 Millionen Gastarbeiter, die 85 Prozent der Bevölkerung ausmachen, auf der kleinen Halbinsel im Golf so behandelt, Katar sähe sich kaum der harschen Kritik von Menschenrechts-Organisationen und Arbeitervertretern ausgesetzt, die seit Jahren die Schlagzeilen beherrscht - vor allem mit Blick auf die 600 000 Bauarbeiter. Es gibt kaum eine Ecke in Doha, wo nicht Kräne in den Himmel ragen und Lärm von Baggern tost. Die Aktivisten werfen Katar vor, sein exponentielles Wirtschaftswachstum und den irren Bauboom auf Ausbeutung zu gründen. Von "moderner Sklaverei" spricht Sharan Burrow, Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbundes ITUC.
Sie meint Menschen wie Prakash, 22, der aus Bangladeschs Hauptstadt Dhaka kommt. Er zupft die Decke auf seinem Bett zurecht, damit der Besucher Platz nehmen kann. Das Zimmer liegt in einer Art Lagerhalle. Der Boden ist aus Schalungsplatten gezimmert, vor der Tür steht ein Regal für die Schuhe, aus Eisenstangen von der Baustelle zusammengeschweißt. Tisch oder Stuhl gibt es nicht, nur fünf Stockbetten, verschachtelt in den Raum gezwängt. So hausen hier in Shahaniyah Tausende, es ist eine der größten Arbeiter-Siedlungen, eine Stunde von Dohas Zentrum, und es gibt ähnliche Quartiere etwa an der Salwa Road.
Zehn Mann auf 20 Quadratmetern
Es riecht dumpf und feucht von den nassen Handtüchern - und nach Curry. Zehn Mann teilen sich die 20 Quadratmeter; hier schlafen sie, hier essen sie - auf dem Boden. Für mehr bleibt ohnehin keine Zeit. Sie haben Schnüre gespannt zwischen den Stockbetten aus schwarzem Stahlrohr, an denen sie Kleidung und Handtücher aufhängen, zugleich einziger Sichtschutz. In der Ecke stehen zwei Säcke Reis.
Prakash und die anderen sind ungelernte Arbeiter, sie flechten Eisen oder ziehen Trockenbauwände hoch. Gerade arbeiten sie an einer Shoppingmall im glitzernden Hochhaus-Quartier West Bay. Ihre Duschen stehen auf einer Betonplatte unter freiem Himmel. Nebenan im Küchenhaus brutzeln Dutzende Männer auf Gasflammen in Blechtöpfen das Essen, das sie nach der Arbeit selbst zubereiten müssen.
900 Rial Grundlohn hat ihnen der Vermittler in der Heimat versprochen, 210 Euro. Mit Überstunden und Essensgeld könnten sie 1500 Rial machen, 350 Euro, erinnert sich Prakash. Das war verlockend in einem Land, in dem der Durchschnittslohn etwa in der Textilindustrie bei 33 Euro im Monat liegt. Das hörte sich damals auch noch gut an, als der Agent fast 1500 Euro verlangte, um ihnen das Visum zu besorgen. Doch einmal in Katar angekommen, kassierte die Firma ihre Pässe ein. Dann hieß es plötzlich, sie bekämen nur 500 Rial Grundlohn plus 200 Rial fürs Essen.
"Da bleibt fast nichts übrig; Telefon ist teuer und auch das Essen", klagt Prakash. Dafür schuften sie zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Meistens machen sie zwei Überstunden, das bringt noch mal fünf Rial. Prakash versucht, wenigstens alle zwei, drei Monate Geld nach Hause zu schicken. Er muss ja noch Schulden abstottern, nach zweieinhalb Jahren in Katar, denn das Geld für den Vermittler musste er borgen. Er hat die Familie angepumpt und Freunde. "Too much problem this company", rufen die Männer, alle zwischen 22 und 25 Jahre alt. Sie hatten von ein bisschen Wohlstand geträumt, jetzt fühlen sie sich nur verkauft und verraten.
Fast alles, von dem die zehn Bangladescher berichten, ist nach Katars Gesetzen illegal. Stockbetten sind verboten, pro Person stehen ihnen vier Quadratmeter zu. Noch in ihrer Heimat müssten die Arbeiter eine vom katarischen Arbeitsministerium gestempelte Vertragskopie erhalten - der selbstredend eingehalten werden muss. Vermittlungsgebühren verstoßen gegen das Gesetz, der Arbeitgeber darf Pässe nicht einbehalten. Die Arbeitszeit ist auf 48 Stunden je Woche begrenzt, zehn Stunden, je Tag. Doch selbst wenn Arbeiter wissen, dass ihnen Rechte vorenthalten werden, wagen sie nicht, sich zu beschweren: "If complain canceled next day and go home", erklärt Prakash. Es ist die pure Angst.
Der Arbeitgeber kann unter einem Vorwand den Vertrag beenden - und weil er für ihr Visum bürgt, fliegen die Arbeiter meist binnen Tagen aus dem Land, wenn er sie dem Innenministerium meldet. Dieses "Kafala"-System ist zentraler Kritikpunkt, weil er die Arbeiter dem ohnehin übermächtigen Arbeitgeber ausliefert - ohne seine Zustimmung können sie weder Katar verlassen, noch bessere Arbeit suchen. Ein Teufelskreis. Ein von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht der Großkanzlei DLA Piper, erstellt, nachdem der Guardian, die Süddeutsche Zeitung und andere mit Berichten über die Missstände einen internationalen Aufschrei ausgelöst hatten, empfiehlt auch dringend dessen Abschaffung.
Arbeits- und Sozialminister Abdulla al-Khulaifi empfängt im 16. Stock. Er ist gut aufgelegt: Gerade hat das Kabinett zwei seiner Reformvorschläge gebilligt. Katar hat versprochen, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Gastarbeiter zu verbessern. Der neue Emir, Tamim bin Hamad al-Thani, hatte die Lage "inakzeptabel" genannt. Er sei "persönlich verletzt von der Dimension des Problems". Seither wartet die Welt auf die für Ende 2014 angekündigten Gesetzesänderungen. Menschenrechtler haben der Regierung vorgeworfen, die Reformen auf die lange Bank zu schieben.
"Katar ist ein kleines Land", sagte der Minister, "aber auch wir müssen den Weg der Gesetzgebung einhalten." Seine Vorlage für einen Schutzmechanismus, der pünktliche, korrekte Lohnzahlungen garantieren soll, "ist fertig zur Unterschrift seiner Hoheit, des Emirs."
Das ist ein weiterer Punkt, über den es massive Beschwerden gibt. Künftig muss das Geld auf ein Konto in Katar oder im Heimatland der Arbeiter gezahlt werden - die Nationalbank soll dem Ministerium die Daten liefern, das sie mit den registrierten Verträgen abgleichen wird. Behält der Arbeitgeber Lohn ein oder zahlt zu spät, fällt das auf. Als "positive Entwicklung", bezeichnet Nicholas McGeehan von Human Rights Watch das vorsichtig. Aber wie anderen Menschenrechtlern gehen ihm die Reformen nicht weit genug.
Sie sehen den Kern eines "korrupten Systems", wie Gewerkschafterin Burrow formuliert, im Kafala-System - die völlige Abhängigkeit der Arbeiter vom Arbeitgeber, die Missbrauch und Ausbeutung Tür und Tor öffnet. Solange die Ausreise-Visa nicht abgeschafft würden und Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die für Jobwechsel nötig sind, habe der Chef die Angestellten in der Hand. Denn beide Papiere bekommt der Arbeiter nur mit dessen Zustimmung.
Zwei bis fünf Jahre an eine Firma gekettet
Auch hier seien Änderungen geplant, erklärt der Minister; die Zuständigkeit liegt jedoch beim Innenressort. Künftig soll das Visum an den Arbeitsvertrag gekoppelt sein, nicht mehr an den Arbeitgeber. Nach Ende der Laufzeit könnten die Arbeiter sich eine andere Beschäftigung in Katar suchen. Doch kettet sie das immer noch für zwei bis fünf Jahre an eine Firma. Menschenrechtler sehen das Grundproblem damit ungelöst. Auch der Bericht von DLA fordert, das Kafala-System abzuschaffen und bis dahin Ausreise-Visa spätestens nach 72 Stunden zu erteilen, wenn nicht der Arbeitgeber schwerwiegende Gründe wie Straftaten geltend macht und auch beweisen kann.
Überall wird gebaut: Katar gleicht, wie hier in Doha, vielerorts einer Baustelle.
Bis zur Fußball-WM 2022 gibt es noch viel zu tun. Umkonstruiert werden sollen aber nicht nur die Städte, sondern auch die Rechte der Gastarbeiter.
Zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche schuften die Arbeiter, um neue Gebäude, wie hier eine Shoppingmall im Quartier West Bay, Doha, hochzuziehen.
Der Lohn, den die Männer für ihre Arbeit erhalten, ist gering. Für die Familien daheim bleibt kaum etwas übrig.
Bevor sie nach Katar kamen, träumten die Arbeiter von ein bisschen Wohlstand. Jetzt fühlen sie sich nur verkauft und verraten.
Der Minister zieht eine Rolle mit sechs eng bedruckten DIN-A0-Bögen hervor. "Sehen Sie", ruft er, "die Vorschläge, an denen wir arbeiten, wir erstellen einen Aktionsplan." Manches sind Empfehlungen aus dem Piper-Bericht oder der Qatar Foundation. Die hat auf 160 Seiten eigene Vorgaben entwickelt, die das Supreme Committee, das die Fußball-WM organisiert, für seine Baustellen anwendet. Viele Großfirmen wie Qatar Rail halten sich an die Standards, verpflichten ihre Subunternehmer darauf und überwachen die Einhaltung.
"Wir machen das schon aus eigenem Interesse, denn nur so sind unsere Leute produktiv", sagt QR-Technik-Chef Daniel Leckel, ein Deutscher. Sein Unternehmen beschäftigt 14 000 Arbeiter, es könnten doppelt so viele werden. Das Supreme Committee rechnet in der Hochphase sogar mit 74 000. Die Vorgaben würden auf Basis von Interviews mit Arbeitern weiterentwickelt, erklärt die katarische Juristin Farah al-Muftah, die das Arbeiter-Komitee leitet. Sie hofft natürlich, dass die WM hilft, neue Standards zu setzen.
Menschenrechtler aber fürchten ein Zwei-Klassen-System - die Arbeiter der Stadion-Baustellen werden gut behandelt, während andere, die Straßen, Hotels oder Shoppingmalls errichten, weiter im Elend leben oder in der brutalen Sommerhitze ihre Leben verlieren. Die größten Probleme gibt es laut Amnesty International ohnehin bei den kleinen Subunternehmen mit 50 bis 200 Beschäftigten.
Die alle zu überwachen fällt Katar schwer, es gibt nur 200 Inspektoren. Der Minister erhöht die Zahl derzeit auf 300 und würde gerne weitere 100 anstellen. "Wir erkennen die Probleme", sagt al-Khulaifi. Man arbeite hart daran, betont er und kündigt im selben Atemzug an, fünf neue Siedlungen für je 25 000 Arbeiter zu bauen. "Unsere Taten werden für uns sprechen." Die Katarer haben verstanden, dass sie bis zur Eröffnungsfeier 2022 genau unter Beobachtung stehen, dass die Handball-WM jetzt oder die Titelkämpfe der Leichtathleten 2019 immer wieder Anlass sein werden, nachzusehen, ob sich etwas geändert hat.
Am Ende könnte das kleine Katar vielleicht Vorbild für die großen Nachbarn werden: In Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen Hunderttausender Gastarbeiter keineswegs besser. Nur gibt es dort keine Fußball-WM.