Süddeutsche Zeitung

Rentenreform:Kommt Frankreich jetzt zur Ruhe?

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Der Verfassungsrat hat Präsident Macrons Rentenreform größtenteils gebilligt. Damit kann das umstrittene Gesetz in Kraft treten. Warum das trotzdem nicht das Ende der Proteste sein muss.

Von Kathrin Müller-Lancé, Paris

Der französische Verfassungsrat hat die umstrittene Rentenreform im Kern gebilligt, Präsident Emmanuel Macron das Gesetz daraufhin unterzeichnet. Damit kann das Gesetz, wie von der Regierung geplant, noch in diesem Jahr in Kraft treten. Die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters von 62 auf künftig 64 Jahre ist dem Urteil zufolge verfassungsgemäß. Allerdings haben die Richterinnen und Richter auch sechs Artikel gekippt, die ihnen zufolge nicht mit dem Haushaltsgesetz kompatibel sind, in das die Regierung die Reform verpackt hat. Zum Beispiel einen "Seniorenindex", der Unternehmen verpflichten sollte, den Anteil älterer Beschäftigter offenzulegen.

Lange hatte sich nicht mehr so viel Aufmerksamkeit auf den französischen Verfassungsrat gerichtet. Schon am Donnerstag häuften sich vor dem Pariser Gerichtsgebäude in der Nähe des Louvre Mülleimer - Gegner der Rentenreform hatten den Eingang damit blockiert. Wenige Stunden später sprach der Innenminister ein Versammlungsverbot für die Umgebung des Gebäudes aus. Am Freitag schützten meterhohe Sicherheitszäune das Gericht. Ist die Entscheidung des Verfassungsrats nun der Anfang vom Ende der Debatte, die das Land seit drei Monaten beschäftigt?

Seit Januar streitet Frankreich um die Reform, die Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung planen. Mitte März hatte die Regierung die Reform per Verfassungsklausel ohne Abstimmung im Parlament durchgedrückt, damit galt sie als beschlossen.

Macron will jetzt mit den Gewerkschaften reden. Ein schlechter Witz, finden die

"Der Text erreicht das Ende seines demokratischen Prozesses", twitterte Premierministerin Élisabeth Borne nach dem Urteil. "Heute Abend gibt es keine Sieger und keine Besiegten." Kritik an ihrer Entscheidung, das Gesetz ohne Votum im Parlament durchzusetzen, hatten Präsident Macron und seine Premierministerin in den vergangenen Wochen immer wieder zurückgewiesen, das Vorgehen entspreche der französischen Verfassung und sei damit legitim.

Bei den Protesten im ganzen Land waren zuletzt immer weniger Menschen auf die Straße gegangen. Anfang März waren es noch mehr als eine Million gewesen, beim zwölften Streiktag in dieser Woche noch knapp 400 000. Dass sich die Stimmung nach dem Urteil des Verfassungsrates sofort beruhigt, ist allerdings unwahrscheinlich. "Wir werden die Proteste und Streiks weiter unterstützen", sagte die Fraktionsvorsitzende der linken La France Insoumise, Mathilde Panot, am Freitagabend. "Wir fordern die Regierung auf, dieses Gesetz nicht zu erlassen", sagte die neue Vorsitzende der Gewerkschaft CGT, Sophie Binet.

Bereits am Freitagabend kam es in mehreren Städten erneut zu Protesten und Ausschreitungen. In Paris seien 30 Mülltonnen angezündet und 112 Demonstranten festgenommen worden, berichtete der Fernsehsender BFMTV unter Verweis auf den Polizeipräfekten. Auch in etlichen anderen Städten wie Straßburg, Lyon und Nantes kam es zu Protestaktionen - in Rennes wurde die Tür einer Polizeistation in Brand gesteckt.

Präsident Emmanuel Macron hatte den Gewerkschaften noch vor dem Urteil vorgeschlagen, sich in der kommenden Woche auszutauschen. Das Angebot kam nicht bei allen gut an. "Lol", spottete die CGT-Vorsitzende Sophie Binet, also: zum Totlachen. Ihre Gewerkschaft nehme erst an einem Treffen teil, wenn es dabei um das Ende der Reform gehe.

Bisher waren die vielen verschiedenen französischen Gewerkschaften überraschend geschlossen aufgetreten. Nun stellt sich die Frage, ob die Einheit auch nach der Entscheidung des Verfassungsrats bestehen bleibt. Im Regierungslager hofft man auf ein Einlenken des Chefs der größten und moderaten Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger. Er hatte bereits im Vorfeld angekündigt, dass man die Entscheidung des Gerichts respektieren müsse. Wobei er am Rande des Protestmarschs in dieser Woche auch sagte: "Wir werden nicht einfach zu etwas anderem übergehen."

Der Verfassungsrat kippte am Freitag auch den Antrag auf ein Referendum zur Rentenreform, den die Opposition eingebracht hatte. Die Entscheidung über einen weiteren Antrag soll Anfang Mai erfolgen. Auch wenn das Gericht diesen Antrag bewilligen sollte, ist es allerdings unwahrscheinlich, dass es wirklich zu einem Volksentscheid kommt. Dafür bräuchte es die Unterstützung von knapp fünf Millionen Französinnen und Franzosen. Außerdem könnte die Regierung ein Referendum verhindern, indem sie den Vorschlag im Parlament diskutieren lässt.

Zum Tag der Arbeit am 1. Mai rufen die Gewerkschaften erneut zum landesweiten Streik auf. Und keine anderthalb Stunden nach dem Urteil des Verfassungsrates brannte in Paris schon ein Stand mit Leihfahrrädern.

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