Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Europas Führungsduo außer Betrieb

Lesezeit: 3 min

Paris sieht grundlegende Differenzen im Verhältnis zu Deutschland und fordert einen Neustart. Die Beziehung sei schwierig geworden. Der Kanzler gibt sich gelassen.

Von Björn Finke und Josef Kelnberger, Brüssel

Es war bereits zwei Uhr in der Nacht zum Freitag, als Olaf Scholz seine Sicht auf die Lage der Europäischen Union darlegte, und er schien bester Dinge zu sein. Man habe sich "zusammengerauft", sagte der Kanzler, und das war in der Tat schon eine Nachricht: dass es überhaupt ein Ergebnis gab. Die 27 Staats- und Regierungschefs der EU einigten sich bei dem Gipfel in Brüssel nach zähen Verhandlungen darauf, die Vorschläge gegen hohe Energiepreise weiterzuverfolgen, die die Kommission diese Woche präsentiert hatte. Das klingt nun beileibe nicht nach Sensation, aber immerhin: Trotz teilweise erregter Debatten wurde ein Bruch in der Union vermieden - ein Bruch, der neuerdings zwischen den beiden Führungskräften der EU verläuft, Deutschland und Frankreich.

"Europa steht zusammen", sagte Scholz, und er habe sich "in keiner Weise" isoliert gefühlt. Das war seine Replik auf die Warnung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Deutschland dürfe sich nicht "isolieren". Die Kompromiss-Suche bei dem zweitägigen Spitzentreffen war dadurch erschwert worden, dass das Führungsduo derzeit außer Betrieb ist; in wesentlichen Punkten der Energie- und Wirtschaftspolitik gab es vorab keine Verständigung zwischen Paris und Berlin. Am Ende schlug zwar auch Macron wieder versöhnlichere Töne an, aber die Konflikte sind längst nicht ausgeräumt.

Die EU-Energieminister sollen nun weiter über die Vorschläge gegen hohe Gaspreise beraten und das Gesetz möglichst im November verabschieden. Zu dem Paket gehört etwa die Vorgabe, dass Mitgliedstaaten einen Teil ihres Gasbedarfs gemeinsam bestellen sollen. Dies soll die Nachfragemacht bündeln. Größter Streitpunkt beim Gipfel war, ob die EU Gaspreise staatlich deckeln sollte. Hier fanden sich Macron und Scholz in verschiedenen Lagern wieder.

Frankreich gehört zur Mehrheit der Mitgliedstaaten, die ein Limit fordern, während die Bundesregierung warnt, dass künstlich verbilligte Preise die Versorgungskrise verschlimmern können. Die Kommission schlug als Kompromiss vor, die Möglichkeit zu schaffen, bei extremen Preisausschlägen eine Obergrenze einzuziehen, aber nur für wenige Monate und auf einem hohen Niveau. Die Kommission und die Energieminister sollen dieses Modell jetzt ausarbeiten.

Die für nächste Woche geplante gemeinsame Kabinettssitzung zwischen Deutschland und Frankreich hätte Gelegenheit geboten, gemeinsame Linien zu entwickeln, aber die wurde verschoben. Es war kurz vor dem Gipfel ein Signal der Entfremdung. Als ein wesentlicher Grund wurde genannt, deutsche Ministerinnen und Minister hätten Urlaube gebucht, tatsächlich gibt es derzeit aber grundlegende Differenzen. Finanzminister Bruno Le Maire, bekannt für seine Deutschlandfreundlichkeit, sagte am Donnerstag, die deutsch-französischen Beziehungen seien "schwierig" geworden. Es brauche eine "strategische Neudefinition", einen "Reset".

Die Reset-Taste wird häufig nach einem Systemabsturz gedrückt, und das ist in etwa die französische Sicht auf die Lage Deutschlands seit Kriegsbeginn in der Ukraine: Die billige russische Energie steht ebenso nicht mehr zur Verfügung wie die Friedensdividende in Form von geringen Verteidigungsausgaben, und wie lang die China-Geschäfte noch funktionieren, wisse niemand. Das deutsche Wohlstandsmodell wackele und müsse gerettet werden von einer Regierungskoalition mit großen Fliehkräften. Als Hauptgrund für die Entfremdung nannte Le Maire: Die Deutschen suchten nun den Beistand der USA und kauften beispielsweise dort Waffen, während Frankreich europäische Lösungen bevorzuge.

Macron ließ in Brüssel auch Unbehagen über deutsche Alleingänge in der Energiepolitik erkennen, etwa den 200-Milliarden-Euro-Abwehrschirm. Europa müsse "absolut Einigkeit wahren", sagte er. Angesichts des Aufrufs wirkte es kurios, dass er am Donnerstag gemeinsam mit Pedro Sánchez und António Costa, den Regierungschefs von Spanien und Portugal, die Pipeline Midcat beerdigte - ein Projekt, für das Scholz gekämpft hatte. Es sollte Gas von Flüssigerdgas-Terminals auf der Iberischen Halbinsel über die Pyrenäen nach Frankreich und von dort nach Deutschland befördern. Stattdessen soll nun eine Wasserstoff-Pipeline durchs Mittelmeer nach Marseille gebaut werden. Scholz sagte, er sei sehr froh, dass es nach vielen Jahren der Debatte jetzt überhaupt eine Pipeline gebe.

Anders als Macron weigert sich Scholz, die deutsch-französische Entfremdung öffentlich zu thematisieren. Die Zusammenarbeit "ist sehr intensiv", sagte der Kanzler zum Abschluss des Gipfels am Freitagnachmittag. "Da gibt es Fragen, wo wir gemeinsame Sichten haben ... und es gibt dann auch Fragen, die wir diskutieren." Am Mittwoch können Scholz und Macron weiter diskutieren, bei einem Vieraugengespräch in Paris.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5679586
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.