Süddeutsche Zeitung

EU-Gipfel:Ratspräsident Michel braucht dringend einen Erfolg

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Der erste Sondergipfel zum EU-Budget im Februar platzte grandios, von der Leyen hat mehr Gestaltungsraum, Merkel mehr Erfahrung. Der Ratspräsident muss sich gegen den Eindruck stemmen, nur Nebenfigur zu sein.

Von Cerstin Gammelin und Matthias Kolb

Rein formell ist die Sache klar: Die Kontrolle über EU-Gipfeltreffen hat nur einer, und das ist Charles Michel. Seit Dezember ist der Belgier EU-Ratspräsident, er legt die Tagesordnung fest und entscheidet, ob es nötig ist, über die vier regulären Treffen pro Jahr hinaus Sondergipfel einzuberufen. Timing ist dabei alles. Der Ratspräsident muss wissen oder zumindest ahnen, wann die Staats- und Regierungschefs bereit sind für einen Kompromiss. Noch nie ging es um so viel wie an diesem Wochenende. Neben der Einigung auf den EU-Haushalt bis 2027 soll ein Corona-Aufbaupaket beschlossen werden. Es geht um das Signal, dass Europa geeint und handlungsfähig ist. Die Verhandlungen finden unter dem "Brennglas der Weltöffentlichkeit" statt. Die USA, China, Russland schauen zu, ein Scheitern würde dem globalen Image der Gemeinschaft enorm schaden. Im Einladungsbrief an alle Teilnehmer ruft Michel zu Kompromissbereitschaft auf: "Eine Einigung ist entscheidend. Die Zeit ist reif dafür."

Viel auf dem Spiel steht aber auch für die Personen an der Spitze der EU-Institutionen. Neben Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gilt dies besonders für Charles Michel. In einigen EU-Hauptstädten und vielen Ecken des Europaviertels in Brüssel gilt der 44-Jährige bisher als schwach und ohne eigenes Profil. Dringend bräuchte der Liberale einen Erfolg, denn der erste Sondergipfel zum EU-Budget im Februar platzte grandios. Das lag zwar an den "Sparsamen Vier", die auf einer Maximalposition beharrten, weshalb ein Michel-Sympathisant sagt: "Da hätte auch der Papst nichts erreicht." Selbst Kritiker gestehen zu, dass sich manch ein leader unfair gegenüber Michel verhalten hatte, der zuvor dessen Nähe suchte. "Mark Rutte wirkte immer wie ein Freund, aber dann hat er Michel den Dolch in den Rücken gestoßen", sagt ein EU-Botschafter.

Dass Politik brutal sein kann, weiß Charles Michel. Sein Vater Louis war Außenminister, er selbst wurde nach dem Jurastudium Abgeordneter, war Bürgermeister in Wavre, Bundesminister für Entwicklungszusammenarbeit und seit 2014 Premierminister in Belgien. In kaum einem anderen EU-Land ist die Innenpolitik so kompliziert, weil die Interessen von drei Regionen sowie dreier Sprachgruppen in Einklang zu bringen sind. Dass 2009 mit Herman Van Rompuy ein Belgier zum Ratspräsidenten gekürt wurde, war sicher kein Zufall. Manch einer denkt jedoch zurück an Michels Vorgänger, den machtbewussteren Polen Donald Tusk. In Belgien mag es funktionieren, sich stundenlang die Sorgen aller Beteiligten zu notieren, doch auf EU-Ebene brauche es Führungsstärke, klagt ein Diplomat: "Es hilft nicht, immer nach Konsens zu suchen und Entscheidungen zu verschieben." Im Juni entschied sich Michel aber, seinen Kabinettschef auszutauschen, also einen Neustart zu wagen.

Der Ratspräsident muss sich gegen den Eindruck stemmen, nur Nebenfigur zu sein. Die ohnehin schon dominante Rolle von Bundeskanzlerin Angela Merkel als Vertreterin der größten Volkswirtschaft ist durch die Übernahme der Ratspräsidentschaft noch wichtiger geworden. Hinzu kommt, dass Merkel seit Ende 2005 an EU-Gipfeln teilnimmt und zu allen Teilnehmern gute Kontakte pflegt: "Ihre Detailkenntnis ist ebenso einzigartig wie das Vertrauen, das sie genießt", sagt einer, der sie oft aus der Nähe erlebt hat. Ihre Beziehung zu Michel ist gut, der Austausch eng, der Belgier kennt die Details. Beide telefonieren fast täglich miteinander; Merkel hat ihn zudem unterstützt durch Gespräche mit anderen Chefs und der Anregung, doch quer durch Europa miteinander zu reden. So hat der portugiesische Sozialdemokrat António Costa sich auch mit dem niederländischen Liberalen Mark Rutte ausgetauscht und nicht nur mit dem spanischen Nachbarn. Diese Diskussionen über Partei- und Regionengrenzen hinweg sollen mehr Verständnis schaffen.

Man hat auch gelernt aus dem Desaster des Februar-Gipfels, als zunächst nur Einzelgespräche stattgefunden hatten und die Chefs die Nacht durch auf ihren Termin im "Beichtstuhl" warten mussten, bis sie an der Reihe waren. In der Wartezeit hatten sich Frust und Müdigkeit zu einem Gebräu vermischt, das am Ende den Gipfel platzen ließ. Dieses Mal sollen die Diskussionen mehr in größerer Runde stattfinden, um Grüppchenbildung und schlechte Stimmung zu verhindern. Michel wird spontan entscheiden müssen, ob es überhaupt zu Einzelgesprächen kommt. Gewiss scheint zu sein, dass der Austausch mit der Kanzlerin eng sein dürfte.

Ursula von der Leyen hat qua Amt mehr Gestaltungsspielraum

Angespannter ist das Verhältnis zu jener Frau, mit der Michel am häufigsten verglichen wird: Ursula von der Leyen. Die Präsidentin der EU-Kommission ist seit dem 1. Dezember auf ihrem Posten. Die CDU-Politikerin hat qua Amt mehr Gestaltungsspielraum und nutzt diesen immer besser: Das Wiederaufbaupaket hat ihr Team in Absprache mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Merkel erstellt, Michel blieb hingegen außen vor. Dass die Details des Corona-Fonds nicht in der Presse zu lesen waren, bevor alle Hauptstädte informiert waren, wird von der Leyen hoch angerechnet. Ihre Arbeit in dieser konkreten Frage sei "beeindruckend" gewesen, heißt es oft. Auch vor dem Gipfel hält sie engen Kontakt in die Hauptstädte, was vor allem Michels Job wäre.

Im Vergleich zu ihr wirkt sein Englisch eher unbeholfen. Das ist eine Nebensache, aber sie fällt auf, weil beide die EU in Gipfeln mit China, Indien oder Südkorea vertreten und dann die Ergebnisse vor den Journalisten präsentieren. Egal ob Auslandsreisen oder Einladungen zu wichtigen Pressekonferenzen wie jener nach der Brexit-Videokonferenz mit Boris Johnson, der Eindruck von starker Konkurrenz und Suche nach Profilierung drängt sich auf. Beim heute beginnenden Sondergipfel werde sie jedoch an einem Strang ziehen: Eine Einigung wäre nicht nur wichtig für die EU, sondern auch für beide Politiker, damit sie ihre ehrgeizigen Ziele umsetzen können.

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Quelle:
SZ vom 17.07.2020
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