Süddeutsche Zeitung

Grenzkontrollen:Seehofer bremst bei der Reisefreiheit

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Im März überraschte der Bundesinnenminister die Nachbarländer mit Grenzkontrollen. Aber geht es um die Rücknahme der Einschränkungen, hat er es nicht so eilig. Das hat Gründe.

Von Constanze von Bullion, Berlin, und Christian Wernicke, Düsseldorf

Er ist jetzt bei Stufe drei angekommen, der ungemütlichsten aller Phasen. Stufe eins bei der Bekämpfung der Infektionskrankheit Covid-19, das war nach Auffassung von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Verhängung von Kontaktverboten und die Einführung von Grenzkontrollen in Deutschland. Stufe zwei waren die Milliardenhilfen für bedrängte Existenzen. Stufe drei, "die mit Abstand schwierigste", so drückte sich Seehofer kürzlich aus, das sei die schrittweise Rücknahme der Einschränkungen. Diese Phase darf nun als erreicht gelten.

Seit Tagen wächst der Druck auf den Innenminister, die Kontrollen an deutschen Landesgrenzen zu lockern oder aufzuheben. In Brüssel, einigen Bundesländern, aber auch in der Opposition wächst das Unbehagen über ein Europa, welches das Versprechen der Reisefreiheit nicht mehr einzulösen vermag. Nur - Seehofer wäre eben auch nicht Seehofer, würde er diesem Druck allzu schnell nachgeben.

Tempo rausnehmen war am Dienstag also die Losung im Bundesinnenministerium. Dort hatte man Mitte März in einem eher eigenmächtigen Zeitplan wegen der Ausbreitung des Coronavirus wieder Polizeikontrollen an etlichen deutschen Landesgrenzen eingeführt. Das Vorhaben soll mit EU-Innenministern vorbesprochen worden sein. Offenbar war es aber nicht auf höchster Ebene besiegelt. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron reagierte verärgert. Auch aus Brüssel kam Kritik. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) blieb damals nichts anderes übrig, als die von Seehofer schon verkündeten Grenzkontrollen nachträglich als europäisches Vorhaben zu präsentieren.

Deutschland prescht vor, die europäischen Nachbarn ziehen notgedrungen nach - dieses Szenario soll sich nun bei der möglichen Aufhebung der Grenzkontrollen nicht wiederholen. "Ich bin intensiv in Gesprächen mit allen Beteiligten, insbesondere unseren Nachbarn", sagte Seehofer der Süddeutschen Zeitung am Dienstag. Auch zu einem möglichen Ende der Quarantäneregelung in Deutschland wolle er sich nicht äußern. "Es wird noch etwas dauern." Mit einer Entscheidung wurde frühestens für Dienstagabend gerechnet.

Seehofer, vom Naturell her kein Europapolitiker, hat es in der Corona-Krise stets als erste Aufgabe betrachtet, für die Sicherheit "der Bevölkerung" zu sorgen. Immer war damit die in Deutschland gemeint, die - gefühlt - gegen einen Eindringling von außen zu schützen war. Seehofer ordnete im März Grenzkontrollen zu Covid-19-Risikogebieten an: Frankreich, Österreich, die Schweiz, Luxemburg und Dänemark. Auch Flugreisenden aus Italien und Spanien wurde die Einreise nur mit triftigem Grund erlaubt, etwa bei berufsbedingtem Pendeln, bei unaufschiebbaren Geschäftsterminen oder zum Warentransport.

Im Hause Seehofer sieht man die Grenzkontrollen als nützliche Maßnahme - auch weil sie als eine Art Beifang die Festnahme etlicher mutmaßlicher Straftäter ermöglicht haben. Eine Lockerung der Kontrollen, etwa die Begrenzung auf Stichproben oder eine Wiedereröffnung geschlossener Grenzübergangsstellen, galt in Berlin dennoch als mögliches Vorgehen.

Alle Kontrollen gleichzeitig aufheben will Seehofer aber nicht. "Ein wesentliches Kriterium ist das Infektionsgeschehen beiderseits der Grenzen", sagte ein Sprecher. Zu beachten sei auch, ob in den jeweiligen Nachbarländern ähnliche Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung gelten. Eine Situation, in der in Frankreich Läden geschlossen seien, in Deutschland aber offen, könne dazu führen, dass viele Franzosen nach Deutschland einkaufen führen. Dies gilt im Innenministerium als zu riskant.

Knifflig dürfte für Seehofer auch das Thema Quarantäne werden. Ein Gericht hat die generelle Quarantänepflicht für alle Reisenden nach Deutschland außer Vollzug gesetzt. Es gab damit dem Eigentümer eines Ferienhauses statt. Wenn Bund und Länder kommende Woche wieder konferieren, dürfte auch bei der Quarantänepflicht der Lockerungsdruck wachsen. Im Innenministerium gibt man sich gelassen. "Das Urteil ist noch kein Grund, die geltende Regelung zu ändern", sagte ein Sprecher. Das letzte Wort bei der Quarantäneregelung haben allerdings ohnehin die Länder.

Einer, dem Seehofers bedächtiges Vorgehen viel zu langsam abläuft, ist Armin Laschet, NRW-Ministerpräsident und Aspirant für den CDU-Bundesvorsitz. Er findet den Berliner Kurs fundamental falsch. Der sei in den vergangenen Wochen zu sehr nationalstaatlich und zu wenig europäisch geprägt gewesen, bemängelt er. "Es braucht nun Regeln, die die Menschen vor der Ausbreitung des Coronavirus schützen, aber nicht an nationalen Grenzen Halt machen", sagte er der SZ. Nordrhein-Westfalen stehe "in engem Austausch mit unseren Nachbarn in Belgien und den Niederlanden", um "perspektivisch den grenzüberschreitenden Tourismus wieder zu ermöglichen.

Der CDU-Vize ist im Gegensatz zum CSU-Minister, sobald es um Europa geht, noch immer ein "Kohlianer". Laschet wuchs im deutsch-niederländisch-belgischen Dreieck bei Aachen auf, zudem haben sechs Jahre als Europa-Abgeordneter sein kontinentales Bewusstsein gestählt. Schlagbäume hoch, das liege im urdeutschen Eigeninteresse: "Ohne den Binnenmarkt mit offenen Grenzen kann auch Deutschland die Krise nicht überwinden", sagte er der Rheinischen Post.

Laschet predigt da, was er im eigenen Land praktiziert. Die NRW-Grenzen nach Belgien und den Niederlanden blieben trotz Covid-19 - abgesehen von eher sporadischen Kontrollen der Bundespolizei - weitgehend offen. Seit Corona Ende Februar über NRW kam, widersetzen sich Laschet und sein Verkehrsminister Hendrik Wüst Berliner Ansinnen, auch dort das Grenzregime zu verschärfen.

Staus und Ärger entlang der Grenze nahe Laschets Heimat verursachen nur die Belgier: Wer als deutscher Besucher ohne triftigen Einreisegrund etwa auf der Autobahn Richtung Brüssel erwischt wird, den bedroht das Königreich mit 250 Euro Geldbuße. Besonders hart trifft das belgische Corona-Regime die vielen Deutschen, die sich in Ostbelgien angesiedelt haben: Pendler genießen zwar Freizügigkeit, aber wer ohne Passierschein vom Bürgermeister einfach mal so zum Einkaufen oder Tanken oder Familienbesuch in die Bundesrepublik reist, wird spätestens bei der Rückreise regelmäßig kontrolliert - und oft auch bestraft.

Die enge Verflechtung über die westdeutsche Landesgrenze hinweg gebiete Freizügigkeit, sagt Laschet. Andernfalls drohten wichtige Lieferketten der Wirtschaft zu reißen. Und man riskiere sogar Engpässe im Gesundheitssystem. Medikamente könnten knapp werden, viele Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die in Krankenhäusern und Altenheimen die Corona-Not bekämpften, seien Tagespendler. Anfang April, als das Berliner Corona-Kabinett sich schließlich den Wünschen aus Düsseldorf beugte, stellte sich Laschet im niederländischen Grenzort Vaals mitten auf die Straße und verkündete mit vom Winde verwehten Haar: "Der Kampf hat sich gelohnt, die Grenze bleibt offen!"

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SZ vom 13.05.2020
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