Süddeutsche Zeitung

Europas Konservative:Die Anziehungskraft des Autoritären

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Der Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein will die dunklen Seiten der Christdemokratie nach 1945 erkunden. Es geht dabei viel um die ÖVP und Ungarns "illiberale Demokratie". Und die Zukunft könnte eher noch dunkler werden.

Von Rudolf Walther

Wie grenzt sich der europäische Konservatismus nach rechts ab? Das interessiert den in Wien lehrenden Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein. Er beschäftigt sich in seinem Buch mit der Geschichte der christdemokratischen Parteien in Europa nach dem Zeiten Weltkrieg und nimmt sich dabei vor allem die "dunkle Seite" der Christdemokratie vor.

Christdemokratische Parteien gehörten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ohne Zweifel zu den Erbauern und Garanten eines neuen, demokratisch-rechtsstaatlichen Europas nach der abenteuerlichen Annäherung des politischen Katholizismus und seiner parteipolitischen Ausprägungen in der Zwischenkriegszeit in Deutschland, Österreich und Spanien an rechtsradikale, faschistische und andere autoritär-antidemokratische Bewegungen, für die die österreichischen Christlichsozialen und ihr Kanzler Engelbert Dollfuß wie die deutsche Zentrumspartei mit den Kanzlern Heinrich Brüning und Franz von Papen stehen.

Aufbruchstimmung nach dem Krieg - aber nicht lange

Die Neugründungen der Christdemokratie nach 1945 in Italien und Deutschland waren gekennzeichnet von einer demokratiefreundlichen Aufbruchstimmung, wie sie etwa im "Ahlener Programm" der CDU von 1946 zum Ausdruck kam: "Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden". Dieses Programm mit sozialistischen Einsprengseln wurde allerdings schon drei Jahre später von den wirtschaftsliberalen "Düsseldorfer Leitsätzen" abgelöst.

Erste dunkle Seiten in der europäischen Christdemokratie zeigten sich im Umgang mit Franco in Spanien und Salazar in Portugal. Beide Diktatoren wurden von den Christdemokraten in Westeuropa förmlich hofiert, wirtschaftlich bevorzugt und politisch geschont. Strukturell Vergleichbares vollzog sich 2004 nach der EU Ost-Erweiterung mit den 17 nur halbwegs demokratisierten Parteien aus den ehemaligen Volkdemokratien im Osten.

Obwohl sich Viktor Orbán in Ungarn offen zur "illiberalen Demokratie" bekennt, seit 2020 mit Dekreten regiert und ein autokratisches politisches Regime installiert, dauerte es sehr lange, bis die von Christdemokraten geführte "Europäische Volkspartei" (EVP) auf die EU-Normen systematisch unterlaufende und verletzende ungarische Provokation mit angemessenen Mitteln reagierte, was die bayerische Politik unter Seehofer und Söder bis zuletzt zu verhindern versuchte.

Die EVP-Fraktion zögerte lange beim Thema Ungarn

Schließlich kam die Fidesz-Partei Orbáns einem Ausschluss aus der EVP-Fraktion am 3. März 2021 durch einen freiwilligen Austritt zuvor, nachdem die ungarischen Abgeordneten den Christdemokraten im EU-Parlament jahrelang die Mehrheit gesichert hatten. Wolkenstein spricht mit Recht von einer Komplizenschaft der EVP mit Orbán bei der systematischen Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat in Ungarn.

Mit "skrupelloser Machtpolitik", die vor fast gar nichts zurückschreckt, profilierte sich auch Sebastian Kurz, zuerst als ÖVP-Parteichef, danach als Kanzler, bis er im Oktober 2021 definitiv zurücktrat und als "Global Strategist" direkt in die Dienste des Multimillionärs, Trump-Unterstützers und Hedgefonds-Managers Peter Thiel trat, um dessen Projekt eines Brückenbaus zwischen christlich-liberalem Mainstream und dezidierter Rechter zu unterstützen.

Der Standard, die lesbarste österreichische Zeitung, fragte schon im Mai 2021: "Wieviel Orbán steckt in Kurz?" Was den Zustand und die Zukunft der europäischen Christdemokratie betrifft, so ist Wolkensteins Diagnose vorsichtig-pessimistisch. Sie pendelt zwischen Rat- und Perspektivlosigkeit, wie sie etwa Armin Laschet verkörpert und offener Kooperationsbereitschaft der österreichischen ÖVP mit rechten und Mitte-Rechts-Parteien autoritär-konservativer Herkunft.

Hans Maiers Standardwerk offenbar unbekannt

Etwas nassforsch erscheint Wolkensteins Klage, es fehle an einem Standardwerk zur Geschichte der Christdemokratie in Europa. Der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Maier (CSU) behandelte zwar in seiner politikwissenschaftlichen Dissertation von 1959 - "Revolution und Kirche.

Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie (1789-1850) nur einen Teil dieser Geschichte, setzte damit aber einen Maßstab auf einem Niveau, das Wolkensteins Buch zur Nachkriegsgeschichte der Christdemokratie in jeder Hinsicht schlecht aussehen lässt. Insbesondere Maiers Analyse des politischen Katholizismus als spezifisch katholische Antwort auf die Moderne ist und bleibt ein Standardwerk von hohem Rang.

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