Süddeutsche Zeitung

Corona-Wiederaufbaufonds:Lizenz zum Schuldenmachen

Lesezeit: 4 min

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt darüber, was die EU auf Pump finanzieren darf - und wer dafür haftet. Sind die vielen Milliarden Euro des europäischen Corona-Wiederaufbaufonds der Einstieg in die Schuldenunion?

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die Pandemie hat in Europa tiefe Spuren hinterlassen, wirtschaftlich wie sozial. Deshalb war es gewiss eine gute Sache, dass die Europäische Union im Jahr 2020 einen 750 Milliarden Euro schweren Corona-Hilfsfonds mit dem zukunftsverheißenden Titel "Next Generation EU" aufgelegt hat. Andererseits bergen solche Krisen stets die Gefahr, dass man sich dank großzügiger Hilfe beruhigt schlafen legt und dann in einem ganz anderen Land aufwacht. Zum Beispiel in einer EU, die sich durch die generöse Hilfsaktion so ganz nebenbei die Lizenz zum Schuldenmachen verschafft hat.

Denn Kredite schaffen politische Gestaltungsmacht, also genau das, was die EU in Zeiten anschwellender Krisen - Corona, Klima, Ukraine - dringend nötig hätte. Doch nach ihrer bisherigen Konstruktion finanziert sich die EU im Wesentlichen aus den Beiträgen ihrer Mitgliedsstaaten und eben nicht über eigene Kredite. Schulden zu machen, das ist das Privileg der Staaten. Und die EU ist keiner.

Diese Idee einer Schuldenunion - für die einen Gespenst, für die anderen Fortschritt - schwebt nun über einer zweitägigen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts, die an diesem Dienstag in Karlsruhe beginnt. Wieder einmal prüft das Gericht zwei Fälle aus dem nie versiegenden Brunnen der Europaklagen. Geklagt haben der Unternehmer Heinrich Weiss sowie der Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke, der einst die AfD gegründet hatte und dann aus ihr ausgeschieden ist. Vergangenes Jahr hatte das Gericht dem Bundespräsidenten zunächst sogar die Ausfertigung des Ratifizierungsgesetzes untersagt - um dann aber doch die Sorge vor einem abrupten Stopp des Geldflusses zu zerstreuen: Im Eilverfahren machte Karlsruhe den Weg für den Hilfsfonds frei, zumindest vorerst.

Mit der Kreditaufnahme für den Fonds habe die EU das Verschuldungsverbot gebrochen, sagen Kritiker

Manche Kritikpunkte der Beschwerdeführer kennt man bereits aus anderen Verfahren. Aus ihrer Sicht kann der Wiederaufbaufonds die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestags aushöhlen, und zwar deshalb, weil Deutschland für die europäischen Schulden mithaftet. Das maximale Haftungsrisiko für Deutschland betrage etwa 770 Milliarden Euro, also etwa zwei Bundeshaushalte. Damit wäre jede Gestaltungsmacht des Bundestags dahin - weil Deutschland praktisch pleite wäre.

Richtig daran ist zwar, dass das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren versucht hat, einen Damm gegen unbegrenzte europäische Haftungsabflüsse zu errichten. Eine exakte Grenze gibt es nicht, aber im Urteil zum Euro-Rettungsschirm von 2012 fand das Gericht einen Haftungsanteil von 190 Milliarden Euro immerhin bedenklich. Andererseits wird so eine Angstzahl allein für ein Veto aus Karlsruhe nicht reichen. Denn die gigantische Haftungssumme von 770 Milliarden Euro basiert auf einem sehr theoretischen Worst-Case-Szenario - einem großflächigen Zahlungsausfall anderer Schuldner und einer Austrittswelle aus der EU. Ob solche Risiken existieren und wie sie einzuschätzen sind, in dieser Frage habe der Bundestag einen "weiten Einschätzungsspielraum", schrieb das Gericht damals. Das war nur eine vorläufige Entscheidung, gewiss. Aber es klang so, als würde das Gericht auch im Hauptsacheverfahren nicht mehr daran rütteln wollen.

Interessanter dürfte der zweite Kritikpunkt werden. Die Kläger rügen, dass sich die EU schleichend eine Kompetenz zum Schuldenmachen verschaffen wolle, die in den EU-Verträgen nicht vorgesehen sei. Mit der Aufnahme von Krediten für den Hilfsfonds habe die EU das Verschuldungsverbot gebrochen, das zu den wesentlichen Grundlagen der Verträge von Maastricht und Lissabon zähle.

Ist der Hilfsfonds also die Frucht vom verbotenen Baum - der Einstieg in eine dauerhafte Schuldenunion? Politisch mag man das mutmaßen, die Versuchung ist gewiss groß. Aber rechtlich ist der Fonds gerade nicht auf Dauer angelegt, sondern als eine "zeitlich strikt begrenzte Zweckverschuldung", wie Bundesregierung und Bundestag argumentieren. Er ist ausdrücklich als Notmaßnahme konzipiert; dass die Pandemie eine außergewöhnliche Situation hinterließ, lässt sich nicht bestreiten. Zudem ist die Rückzahlung der Schulden auf das Jahr 2058 terminiert, und ihre Höhe ist begrenzt. Wenngleich die Höhe schwindelerregend ist.

Letztlich offenbart sich in dem Karlsruher Verfahren ein großes Dilemma europäischer Politik. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor zwei Jahren ihren Plan für einen Wiederaufbaufonds präsentierten, wurde dies durchaus als europapolitische Zäsur verstanden - nämlich als Eintritt in eine Art Fiskalunion, wenngleich mit begrenztem Mandat. Oder wie es die Kritiker nennen: eine Vergemeinschaftung von Schulden.

Es stellen sich hier zutiefst politische Fragen zur Weiterentwicklung der EU

Das reiht sich ein in die europäischen Kriseninterventionen der vergangenen Jahre - etwa die Euro-Rettungsschirme und die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) nach der Finanzkrise. Sie sind stets juristisch in Karlsruhe ausgefochten worden, doch im Grunde stellen sich hier zutiefst politische Fragen nach einer Weiterentwicklung der Europäischen Union. Etwa die Frage nach einem "regulären europäischen Finanzausgleich nach Maßstäben, die in gerechter Weise zwischen Eigenverantwortung und Solidarität vermitteln", wie der Finanzrechtler Hanno Kube vor einiger Zeit schrieb.

Anders ausgedrückt: Richtig wäre es, solche Reformen durch die Vordertür anzugehen, also durch eine Grundsatzdiskussion über eine Änderung der Europäischen Verträge. Doch weil dies politisch derzeit vollkommen undenkbar ist, bleibt nur die Hintertür, nämlich der Weg über eine großzügige Interpretation der bestehenden Regeln. Was wiederum den Gerichten eine Schlüsselrolle verschafft, die sie bei politischen Reformen nicht haben sollten.

Was also wird Karlsruhe tun? Es gibt einen ganz praktischen Grund, warum das Verfassungsgericht es womöglich bei ein paar mahnenden Worten in Richtung Berlin und Brüssel belassen könnte, das Schuldenmachen nicht zur Gewohnheit werden zu lassen. Andernfalls müsste es den Fall wohl zunächst dem Europäischen Gerichtshof vorlegen. Und dies könnte als neuerliche Konfrontation verstanden werden, wie vor zwei Jahren im heftig kritisierten EZB-Urteil.

Dass ein solcher Eklat sich tunlichst nicht wiederholen sollte, das sieht man auch in Karlsruhe so. Zum Dialog des Verfassungsgerichts mit den europäischen Playern gehöre es schon auch, dass es mal kracht, sagte der soeben ausgeschiedene Verfassungsrichter Andreas Paulus (der nicht am EZB-Urteil beteiligt war) vergangene Woche bei seiner Verabschiedung. "Aber es muss eben die Ausnahme bleiben, es darf nicht die Regel werden." Eine Erfahrung der vergangenen Jahre sei auch, "dass wir in Europa als Gerichte insgesamt nur dann stark sind, wenn wir möglichst mit einer Stimme sprechen".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5627402
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.