Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Im Angesicht der Mutanten

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Freier Reiseverkehr ist schlecht, zu harte Grenzkontrollen aber auch - bei einem virtuellen Gipfel ringen die Staats- und Regierungschefs um Lösungen für die Krise.

Von Björn Finke und Matthias Kolb, Brüssel

Es spricht viel dafür, dass dieser virtuelle EU-Gipfel vor allem zwei Teilnehmern in Erinnerung bleiben wird. Die Estin Kaja Kallas und der Italiener Mario Draghi sind das erste Mal dabei im Kreis der Staats- und Regierungschefs, auch wenn Draghi früher als Chef der Europäischen Zentralbank regelmäßig mit den "Leaders" diskutierte. Wie üblich hatte EU-Ratspräsident Charles Michel die Neulinge im illustren Kreis zu Beginn der Sitzung begrüßt, die nur ein Thema hatte: die Bewältigung der Corona-Pandemie.

Vor etwas mehr als einem Jahr wurde das Virus Sars-CoV-2 in Europa festgestellt, im März ging der Kontinent in verschiedene Varianten des Lockdowns und seither schalten sich die Staats- und Regierungschefs im Monatsrhythmus zusammen, um sich möglichst gut zu koordinieren. Dass dies den Ansprüchen der immer müder und mürber werdenden Bevölkerung gerade kaum genügt, wissen sie selbst. Die Impfkampagne kommt in der EU nur langsam in Schwung, die Sorge über die hoch ansteckenden Varianten aus Großbritannien, Südafrika und Brasilien ist groß und die Fallzahlen gehen in vielen Ländern wieder nach oben.

Sehr ernst sei die Lage in Ungarn, Slowakei und Tschechien, berichtete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach der viereinhalbstündigen Sitzung. Sie stellte die Bürgerinnen und Bürger in der EU auf Impfungen über einen langen Zeitraum ein. Wegen der Mutationen könne es sein, dass "wir über längere Jahre immer in der Lage sein müssen zu impfen", sagte sie.

Die Situation bleibe ernst, heißt es daher auch in der Gipfel-Erklärung. Es gelte, die "strengen Einschränkungen" aufrechtzuerhalten. In ihrer gemeinsamen Stellungnahme fordern die Leaders aber auch: "Wir müssen die Zulassung, Herstellung und Verteilung der Impfstoffe sowie den Impfprozess dringend beschleunigen." EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierte in der Sitzung mehrere Grafiken: 51,5 Millionen Impfdosen hätte die EU bis Ende Februar zur Verfügung gehabt, von denen 29,17 Millionen verabreicht wurden. Acht Prozent der Erwachsenen hätten eine Dosis erhalten. Bis Ende Juni sollen knapp 600 Millionen Dosen vorliegen.

Die Virus-Forschung wird mit 150 Millionen Euro unterstützt

Von der Leyen hatte in der vergangenen Woche das Aktionsprogramm "Hera Incubator" gegen die Ausbreitung der Corona-Varianten vorgestellt, dem die Staats- und Regierungschefs zustimmten. 75 Millionen Euro sollen den EU-Mitgliedern helfen, mehr Genom-Sequenzierung vorzunehmen, um Mutationen zu identifizieren. 150 Millionen Euro sind für Forschung an Virusvarianten vorgesehen, um die Impfstoffe anpassen zu können. Eine Taskforce unter Leitung von Binnenmarktkommissar Thierry Breton soll sich darum bemühen, die Produktionskapazitäten für Vakzine in Europa auszubauen und etwa verhindern, dass Engpässe bei Materialien wie Lipiden entstehen. Laut Merkel wird die Kommission dafür in den kommenden Monaten das "entsprechende institutionelle Modell" entwickeln, denn schließlich betritt die EU, die in der Gesundheitspolitik kaum Kompetenzen hat, hier Neuland.

In der Erklärung steht auch, dass "nicht unbedingt notwendige Reisen" vorerst beschränkt werden müssen. Allerdings wird betont, dass die Maßnahmen verhältnismäßig und nicht diskriminierend sein dürften. Zuletzt war Unmut über die Grenzkontrollen laut geworden, wie sie die Bundesregierung gegenüber Tschechien und Österreich eingeführt hat, weil in einigen Regionen die Inzidenzen durch die Virus-Mutationen sehr hoch sind. Merkel sagte, sie habe "für Deutschland erklärt, dass wir uns in bestimmten Fällen gezwungen sehen, bestimmte Beschränkungen einzuführen", aber man setze alles daran, den freien Warenverkehr zu ermöglichen und die Pendler arbeiten lassen. Neben Deutschland haben auch Belgien, Ungarn, Dänemark, Schweden und Finnland kritische Briefe von der EU-Kommission erhalten. Merkel bat in der Sitzung um eine qualitative Bewertung der EU-Gesundheitsbehörde ECDC zu den sogenannten Corona-Selbsttests. Sie dämpfte aber die Hoffnung auf schnelle und umfassende Lockerungen der Kontaktbeschränkungen. Es müsse geprüft werden, "ob wir uns durch ein vermehrtes Testen auch mit diesen Selbsttests einen Puffer erarbeiten können, sodass wir in der Inzidenz etwas höher gehen können als 35", sagte Merkel. Trotz der Selbsttests könne man weder auf Inzidenzen generell verzichten noch sofort öffnen.

Europol ermittelt im Fall von Geisterimpfstoffen

Wie Michel und von der Leyen betonte sie die Bedeutung von Solidarität mit ärmeren Ländern. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe dafür geworben, Vakzine abzugeben, um medizinisches Personal in Afrika impfen zu können: "Darüber werden wir auch in Deutschland sprechen", wobei der Zeitpunkt noch nicht feststehe.

Unterdessen haben laut EU-Kommission Europol und die EU-Antikorruptionsbehörde Olaf Ermittlungen über sogenannte Geisterimpfstoffe aufgenommen. Zuletzt seien mehreren EU-Regierungen Impfstoffdosen im Wert von drei Milliarden Euro angeboten worden, wobei unklar sei, ob es sich um real existierende Dosen oder nur vorgetäuschte Liefermengen gehandelt habe.

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