Süddeutsche Zeitung

Brexit:Seltener Friede zwischen May und Corbyn

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Von Cathrin Kahlweit, London

Eines ist sonnenklar: Priti Patel ist definitiv kein Fan von Jeremy Corbyn. Von ihrem Twitteraccount verschickt sie just an jenem Tag, der das neue, zarte Band zwischen Tories und Labour festigen soll und an dem die konservative Premierministerin sich mit dem Sozialisten Corbyn treffen will, ein Foto. Es ist eine Collage aus den Gesichtern von May und Corbyn, eine bärtige May also, mit Corbyns skeptischem Blick und seinem schiefen Mund und mit ihren Ohrringen und ihrem vollen, grauen Haar. Ein Times-Journalist schreibt dazu "echt beängstigend", aber weit beängstigender ist der Text, den die ehemalige Entwicklungshilfeministerin Priti Patel zu ihrem Tweet gestellt hat: "Ein Mann, der mit Terroristen und sozialistischen Diktatoren paktiert, der unsere Atomwaffen abschaffen würde und den Antisemitismus in seiner Partei hat ausufern lassen, der Großbritannien in den Ruin treiben würde - der hat nun den Schlüssel zum Brexit bekommen."

Patel, so viel ist spätestens jetzt klar, ist auch kein Fan des neuen Kurses von Theresa May. Diese hatte am Vorabend, nach einer mehr als siebenstündigen Kabinettssitzung, zur Überraschung der Nation verkündet, dass sie auf die Opposition zugehen, mit dieser einen gemeinsamen Weg aus der Misere suchen und damit die fehlenden Stimmen kompensieren würde, die ihr die Hardliner in den eigenen Reihen über Monate verweigert hatten. Am Morgen danach, dem Mittwoch also, schreibt sie allen Mitgliedern der Tory-Fraktion auch noch einen Brief. Offenbar will sie dem Aufschrei begegnen, von dem sie weiß, dass er kommen wird.

Und wie er kommt. May hatte an ihre Abgeordneten geschrieben, es helfe ja nun mal nichts, aber sie wolle No Deal vermeiden, und sie hätte den Deal gern mithilfe der Konservativen und des nordirischen Partners, der DUP, durchgebracht. Da das offenbar unmöglich sei, hole sie jetzt den Chef der Opposition ins Boot. Mit freundlichen Grüßen. Die Botschaft ist klar, sie lautet: Ihr seid selbst schuld. Hättet ihr für meinen Deal gestimmt, müsstet ihr jetzt nicht mit der sehr realen Drohung eines weichen Brexit leben.

Bei der Befragung der Premierministerin ist der Oppositionsführer eher milde

Der Tweet von Priti Patel ist noch eine der harmloseren Kampfansagen, da sie sich prima vista gegen Corbyn richtet. Man muss aber dazu wissen, dass Patel, die aus einer indisch-ugandischen Familie stammt und unter Mays Vorgänger, Premier David Cameron, Karriere machte, wegen eigenmächtiger Verhandlungen mit israelischen Gesprächspartnern, die sie daheim in London verschwiegen hatte, vergangenes Jahr zurücktreten musste. Seither ist sie auch eine Kritikerin von Theresa May, und vor allem ist die scharfzüngige Politikerin eine der wenigen Frauen im Lager der ganz harten Brexiteers. Sie glüht für Britannien, sie hasst Labour, sie hasst Corbyn, und sie kommt nicht darüber hinweg, dass Tory-Chefin May, so sieht sie es zumindest, einen Kotau vor den Sozialisten gemacht hat.

Die Zeitungen titeln bereits Stunden vor dem ersten Treffen von May und Corbyn, dem noch Treffen mit den Regierungschefs von Schottland und Wales, Nicola Sturgeon und Carwyn Jones, folgen sollen: "Tories stinksauer über Mays Einladung an den ,unqualifizierten' Corbyn". Aber vorher muss May noch die Prime Minister's Questions überstehen. In dieser allwöchentlichen Fragestunde wird sie normalerweise vom Oppositionschef gegrillt, wie die Briten sagen, aber der ist an diesem Tag eher milde und meidet das Thema Brexit. Es würde auch seltsam aussehen, hätte er, wie all die Wochen zuvor, die Klingen zu einem Thema gekreuzt, bei dem bald schon Frieden herrschen soll.

Stattdessen bekommt May es von den eigenen Leuten ab, und sie wehrt sich, das muss man sagen, mit Würde. Wieso sie jemanden mitentscheiden lasse, fragt ein Abgeordneter, über den sie noch unlängst gesagt habe, er sei "die größte Gefahr für Großbritannien"? Wieso sie nicht lieber No Deal zulasse, als sich ins Bett zu legen mit einer "marxistischen, antisemitischen Co-Regierung"? Wieso sie heute einen Deal mit Corbyn wolle, wo sie doch immer gesagt habe, kein Deal sei besser als ein schlechter? Alle seien verantwortlich, sagt May, und alle sollten mitreden. Aber auch ihr schwant: Versöhnung sieht anders aus.

Mit zwei Staatssekretären, die am Mittwoch wegen Mays Kurs zurücktraten, war sie offenbar nicht mehr möglich.

Derweil kursiert im Unterhaus ein Antrag auf einem Blatt Papier, nicht namentlich gezeichnet, auf dem vorgeschlagen wird, all jenen Kabinettsmitgliedern, die am Dienstag für Mays Kurswechsel votiert hatten, das Gehalt um 50 Prozent zu kürzen. Man muss wohl sagen: Der Krieg hat begonnen. Ein Reporter der Mail on Sunday kommentiert: "Anarchie im Kabinett. Einige wollen, dass May in den nächsten 24 Stunden weg ist. Die Hinterbänkler schlagen zurück. Und die Leaver in der Regierung sind wütend auf die ERG."

Die ERG, die European Research Group, ist jene Gruppe, die sich dem reinen Brexit, gern auch ohne Deal, verschrieben hat. Ihr Ober-VIP, Jacob Rees-Mogg, hatte den Tag in der BBC mit der Kriegserklärung eröffnet, der sich dann zahlreiche Kollegen anschlossen: Er habe unwesentlich mehr Vertrauen in May als in Corbyn. "Aber da liegt die Messlatte ja auch schon sehr niedrig."

Die Aufbruchsstimmung, die sich May mit ihrem Befreiungsschlag vom Dienstag versprach, ist also sehr schnell wieder dahin. Vielleicht hätten die Abgeordneten nach zwei Jahren Debatte, in denen sie sich fast täglich sahen und Boshaftigkeiten um die Ohren schlugen, einen Mediator buchen oder mal in Ferien gehen sollen?

Dem Parlament ist, etwas mehr als eine Woche vor Ablauf der Austrittsfrist, mit Mays Vorstoß ein wenig Wind aus den Segeln genommen. Man will in aller Eile ein Gesetz verabschieden, das May zwingen soll, bei einem drohenden No Deal eine weitere Verschiebung des Austrittstermins in Brüssel zu beantragen - und diesen späteren Termin wieder vom Parlament absegnen zu lassen. Das sei doch gar nicht mehr nötig, sagen einige Abgeordnete, May mache das nun sowieso. Aber dabei wollen es nicht alle bewenden lassen. Was, wenn May und Corbyn scheitern?

Die Deadline und ein - wenn gleich vielleicht unbeabsichtigter - No Deal sind ja nicht aus der Welt; das ist allen im Unterhaus schmerzlich bewusst. May will daher bis zum Wochenende mit Corbyn einen Fahrplan vorlegen, nächste Woche damit nach Brüssel reisen und, so alles klappt, diesen Fahrplan vor den Europawahlen und damit vor 22. Mai mit einer wie auch immer gearteten Parlamentsmehrheit beschließen. Just hier zeigt sich das nächste Problem, das in Mays erster Fragestunde nach dem Plädoyer für eine nationale Anstrengung deutlich wurde: Wie hellrosa sind die einst roten Linien der Tories, nun, da sie Kompromisse machen sollen? Können May und Corbyn Verständigung? Würden sie sich von Mitarbeitern und Abgeordneten in die Mitte schieben lassen? Wo Remain und Leave die Schnittmenge hätten? May jedenfalls antwortet auf die Frage, was sie mit Corbyn gemein habe beim Brexit, man wolle Arbeitnehmerrechte schützen, der Wirtschaft nicht schaden. Dann sagt sie, beide Seiten wollten kontrollierte Immigration und wüssten, wie eminent wichtig der Austrittsvertrag sei. Übersetzt: Mays rote Linien sind die Unterzeichnung ihres Deals und ein künftiges Modell, das den Briten Kontrolle über die Einwanderung zurückgibt. Was Corbyn nicht unbedingt will. Der schaut denn auch überrascht über seine schwarzrandige Brille. Abends reden May und Corbyn endlich miteinander. Konstruktiv sei es zugegangen, versichern Sprecher beider Parteien. Corbyn selbst sagt es so, das Gespräch sei "nützlich, aber ergebnislos" gewesen. Sie wollen weiterreden, und so lange müssen die Briten weiter warten.

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SZ vom 04.04.2019
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