Süddeutsche Zeitung

Nordirland:Johnsons ungeheure Mission

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Der britische Premier will zugunsten der schwierigen Regierungsbildung in Belfast ein Brexit-Monster beseitigen, das er selbst erschaffen hat.

Von Michael Neudecker, London

Boris Johnson ist kein Mensch, den die Vergangenheit interessiert, er hat mit der Gegenwart schon genug zu tun. Ja, es bereitet ihm nicht mal Mühe, so zu tun, als habe es die Vergangenheit nie gegeben. Zu beobachten ist das auch an diesem Montag wieder, an dem er wegen des Nordirland-Protokolls nach Belfast gereist ist. Das Nordirland-Protokoll ist ein Bürokratieungetüm, das Johnson vor eineinhalb Jahren ganz allein erschaffen, irgendwo im Norden weggesperrt und dann vergessen hat. Weshalb er jetzt ehrlich überrascht ist, wie stark es plötzlich dasteht. Das Nordirland-Protokoll ist zu einer Bedrohung herangewachsen, nicht zuletzt für Johnson selbst.

Kurzer Rückblick. Als Theresa May noch Premierministerin ist, betont sie mehrmals, kein britischer Premier dürfe je einen Deal unterzeichnen, der zu einer Grenze in der Irischen See führe. Einmal, im Juli 2018, sagt sie gar, so ein Vertrag wäre "ein Betrug unserer wertvollen Union". Johnson ist damals noch Außenminister - und in einer Kameraaufzeichnung aus dem Parlament ist gut zu sehen, wie er hinter May sitzt und energisch nickt.

Im November 2019 steht Johnson, inzwischen selbst Premier, in einem Saal in Nordirland, umringt von nordirischen Geschäftsleuten und Unionisten. Ein Gast filmt den Moment mit dem Handy, das Video taucht später häufig in britischen Medien auf und neulich auch auf Twitter. Irgendwann fragt ein Nordire, was er denn tun solle, wenn er aufgefordert werde, für den Transport von Waren aus Nordirland nach Großbritannien Zollformulare auszufüllen. Johnson antwortet: "Sagen Sie diesen Leuten, sie sollen den Premierminister anrufen, ich werde sie anweisen, das Formular direkt in die Mülltonne zu werfen." Ein paar Leute lachen verlegen, bald darauf endet das Video.

Ein halbes Jahr später, im August 2020, ist Johnson erneut in Nordirland. Im Fernsehen wird er nach möglichen Kontrollen an der Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien gefragt. Eine Grenze im Vereinigten Königreich, in der Irischen See? So etwas gebe es "nur über meine Leiche", sagt Johnson. Noch im selben Jahr, an Weihnachten, verkündet er das Ergebnis seiner Verhandlungen mit der EU über das neue Nordirland-Protokoll. Wesentlicher Bestandteil ist eine Grenze in der Irischen See.

Eine etwas eigenwillige Interpretation der Realität

Die Grenze zwischen Irland und Nordirland blieb dafür unangetastet, aber irgendwo müssen die Waren ja kontrolliert werden, die beispielsweise aus Australien nach Großbritannien kommen und von dort aus via Nordirland in die EU. Das für derlei Themen zuständige britische Landwirtschaftsministerium hat vor zwei Monaten ausgerechnet, was alles zwischen 1. Januar 2021 und 20. März 2022 an den nordirischen Häfen kontrolliert wurde: rund 157 000 Lebensmittellieferung, 7500 lebende Tiere, dabei seien 147 Warensendungen abgelehnt worden. Viel Verwaltung an einer Grenze, die es eigentlich gar nicht geben sollte.

Zurück in die Gegenwart. Am Montag veröffentlichte der Belfast Telegraph einen Gastbeitrag von Johnson. Es sei viel passiert, schreibt er da, Pandemie, Krieg in der Ukraine, Weltveränderung, daher passe das Protokoll nicht mehr. Selbst die zuletzt arg neutralen Politikberichterstatter der BBC bemerkten vorsichtig, das sei eine etwas eigenwillige Interpretation der Realität - schließlich haben schon bei Unterzeichnung des Protokolls praktisch alle Beteiligten in London und Belfast vor den Folgen gewarnt.

Aber Johnson und insbesondere seine oft laut-aggressive Außenministerin Liz Truss betonten in den vergangenen Wochen immer wieder, die EU sei schuld, weil sie nicht bereit sei, das Protokoll zu verändern. Und wenn sich die EU nicht bewege, werde man das Protokoll einseitig aufkündigen. Am Dienstag will Truss mit Johnsons Zustimmung ein Gesetz vorstellen, das es der britischen Regierung ermöglichen soll, das Protokoll zu umgehen.

"Die Rhetorik vor allem von Liz Truss ist lächerlich", sagte am Montag Shaun Woodward in der BBC, der frühere Nordirland-Minister der britischen Regierung. "Völlig außer Kontrolle" sei Truss, Johnson müsse unbedingt darauf achten, diese Rhetorik wieder einzufangen. Einen Vertrag nach so kurzer Zeit einfach wieder zu kündigen, und zwar aus genau den Gründen, die von Anfang an klar auf der Hand lagen, das sei ein verheerendes Signal an jedes Land, das in Zukunft Handelsverträge mit London abschließen wolle.

Ein Nordirland ohne Regierung kann Johnson nicht gebrauchen

In seinem Gastbeitrag immerhin betont Johnson, all jene, die das Protokoll einfach wegwerfen wollten, statt es zu verbessern, "konzentrieren sich auf die falsche Sache". Er wolle "immer die Tür für einen Dialog weit offen lassen". Aber: Wenn die EU ihre Position nicht ändere, "dann ist für uns notwendig, zu handeln". Die Zeit drängt, Johnson hat infolge seines Umgangs mit Nordirland während der vergangenen eineinhalb Jahre nun nicht nur ein Problem mit Brüssel, sondern vor allem in Belfast.

Die Bildung des Belfaster Regionalparlaments ist komplex. Im Karfreitagsabkommen wurde einst festgelegt, dass die Regierung nur zustande kommt, wenn beide Seiten, Unionisten und Republikaner, zusammenarbeiten. Der Wahlsieger stellt den First Minister, der Wahlzweite den Stellvertreter. Doch nun, wo erstmals die Republikaner von Sinn Féin gewonnen haben, verweigert die Konkurrenz von der DUP bislang jede Mitwirkung an einer Regierung. Beide Parteien betrachten das Protokoll als Bedrohung für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs - und genau das ist der Keil zwischen ihnen. Sinn Féin findet, das Protokoll könne ruhig bleiben, während die DUP ihren ganzen Wahlkampf dagegen ausgerichtet hatte.

Johnsons Mission in Belfast ist also auch, die DUP zur Rückkehr ins Parlament zu bewegen. Ein Nordirland ohne Regierung kann er nicht gebrauchen. Nicht in der Gegenwart und schon gar nicht in der Zukunft.

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