Süddeutsche Zeitung

Italien:Immer mehr Flüchtlinge sind auf dem Mittelmeer unterwegs

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Die Zahl der Menschen, die per Boot nach Südeuropa zu kommen versuchen, steigt dramatisch. Italien ist so alarmiert, dass Regierungschefin Meloni Europa zur Hilfe aufruft.

Von Marc Beise, Rom

Zunächst die Zahlen: In den vergangenen fünf Tagen sind 6564 Migranten an Italiens Küste registriert worden, fast genau so viele wie 2022 im gesamten ersten Quartal, da waren es 6543 Menschen. Insgesamt sind seit dem 1. Januar dieses Jahres mehr als 27 000 Menschen angekommen. Viele von ihnen stammen aus den Staaten südlich der Sahara und sind in Tunesien an Bord gegangen, einem Land in einer schwerer Krise, wo zu Tausenden noch andere auf eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Italien warten. Dabei sind die Aufnahmelager auf Sizilien schon jetzt völlig überfüllt.

Das ist die Dimension, die Italien in diesem Frühjahr politisch zittern lässt. Und hinter den Zahlen stecken Schicksale, individuelle Tragödien, dramatische Szenen auf dem Wasser. In Italien wird darüber in diesen Tagen ungleich mehr berichtet als etwa in Deutschland. Etliche Rettungsschiffe, staatliche und private, nehmen mit geretteten Migranten an Bord Kurs auf italienische Häfen. Andere Schiffe werden an weiteren Rettungsmaßnahmen gehindert.

"Wir werden daran gehindert zu helfen", klagen Seenotretter

So liegt die deutsche Louise Michel, die unter anderem von dem britischen Streetart-Künstler Banksy finanziert wird, vor der italienischen Insel Lampedusa fest. 180 Menschen hat sie dorthin gebracht, die in mehreren Aktionen gerettet worden waren - womit das Schiff gegen neues italienisches Recht verstoßen hat. Die Besatzung ruft auf Twitter um Hilfe: "Wir wissen, dass in diesem Moment Dutzende von Booten direkt vor der Insel in Seenot geraten sind, aber wir werden daran gehindert zu helfen. Das ist inakzeptabel!"

Ebenfalls im Netz kann man per Video sehen, wie das Rettungsschiff Ocean Viking unterwegs zu einem Boot in Seenot von der libyschen Küstenwache abgefangen wird, es fallen Schüsse. Ungefilmt und weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit spielen sich vor der nordafrikanischen Küste dramatische Szenen ab, wenn Libyens Küstenwache Boote teilweise mit Waffengewalt von der Weiterfahrt abhält. Wie viele von denen, die es auf hohe See schaffen, nicht lebend in Europa ankommen, weiß niemand.

Über diese Situation und ihre Folgen ist in Italien eine heftige Debatte entbrannt. "Der Strom schwillt an", sagt der Minister für Zivilschutz und Meer, Sebastiano Musumeci von den Fratelli d'Italia, der größten Regierungspartei in der Rechtskoalition von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. "Tunesien ist eine Zeitbombe", warnt Musumeci und hält sich zugute, dass er die Entwicklung schon vor Monaten vorhergesagt habe, damals mit den Worten: "Man darf sich nicht vorstellen, was im Sommer passieren wird." Jetzt stellen sich das viele Beobachter vor - und verknüpfen sehr unterschiedliche Gedanken damit.

Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega sieht in den professionellen Schleppern einen "Angriff der Unterwelt" und weist nach Brüssel: "Entweder wacht Europa auf oder es verliert seine Existenz. Europa erlegt den Italienern Opfer auf bei Autos, Wohnungen und Steuern. Es sollte uns jetzt endlich unter die Arme greifen, denn Lampedusa, Triest und Ventimiglia sind italienische und europäische Grenzen." Salvini, heute stellvertretender Regierungschef, hat in der vergangenen Regierung als Innenminister traurige Berühmtheit erlangt wegen seines Kreuzzugs gegen die privaten Seenotretter-Organisationen. Heute weiß man, dass sie nur etwa jeden zehnten Geflüchteten nach Italien bringen, alle anderen finden ihren Weg allein.

Italiens Regierung ist jetzt in der Defensive

Auch Salvinis Tiraden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neue Situation und insbesondere das schreckliche Unglück vor dem kalabrischen Cutro, wo mindestens 100 Menschen ertranken und viele Leichen immer noch vermisst werden, die Regierung bei einem ihrer zentralen Themen in die Defensive gebracht hat. Dass hier und andernorts Hilfe zu spät oder gar nicht kam, lastet man ihr an, weil sie bisher nicht klar genug hat erkennen lassen, dass es ihr vor allem um die Rettung von Menschenleben geht.

In Italien wird aufmerksam verfolgt, ob es der Regierungschefin Meloni gelingt, Hilfe in Europa zu organisieren, die über das hinausgeht, was ohnehin längst beschlossen ist. Die Not ist so groß, dass Meloni sogar ihre alte Aversion gegenüber Frankreich überwunden hat und beim EU-Gipfel kürzlich in Brüssel auf Staatspräsident Emmanuel Macron zugegangen ist. Nun ist die Rede von einem italienisch-französischen Schulterschluss im Mittelmeerraum. Macron hat Geld für Tunesien in Aussicht gestellt, wenn auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hilft. Die Verhandlungen laufen, in Tunis geben sich zurzeit internationale Delegationen die Klinke in die Hand.

Aber das Problem kommt von weiter her, auch darauf weisen Experten hin. Nur 1771 der zuletzt Angekommen stammen wirklich aus Tunesien. 3660 Migranten gaben die Elfenbeinküste als ihre Heimat an, 3177 nannten Guinea, 1986 kamen aus Pakistan, 1896 aus Bangladesch, 1195 aus Ägypten. Das Thema ist so groß, dass bereits wieder an "Mare Nostrum" und "Sophia" erinnert wird, die beiden großen Operationen, mit denen Italien und dann die EU versuchten, den Zustrom über das Mittelmeer irgendwie zu kontrollieren.

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