Süddeutsche Zeitung

Bahnprojekt Stuttgart 21:Wer abstimmt, haftet

Lesezeit: 8 Min.

Glücklich ist mit Stuttgart 21 kaum jemand mehr, und es kommt, wie es kommen musste: Die Kosten steigen weiter. Am Dienstag trifft sich deshalb der Aufsichtsrat der Bahn, der das Projekt noch stoppen könnte. Da reden viele mit. Aber wer will was erreichen? Und aus welchen Motiven? Eine Betrachtung der Beteiligten, von Bahnchef Grube bis zum Juchtenkäfer.

Von Roman Deininger, Max Hägler und Daniela Kuhr

Dieser Dienstag wird der Tag der Entscheidung. Der Aufsichtsrat der Bahn berät über die Zukunft von Stuttgart 21. Bis zu 6,8 Milliarden Euro könnte das Projekt laut Bahn kosten, nur 4,5 Milliarden Euro sind finanziert. Stadt, Land und Bund wollen nichts mehr zuschießen. Soll die Bahn weiterbauen auf die Gefahr hin, dass sie die Kosten allein schultern muss? Darauf werden die Aufsichtsräte antworten müssen - im Bewusstsein, dass sie für die Folgen persönlich zur Verantwortung gezogen werden könnten.

Rüdiger Grube, 61, lässt sich nichts anmerken. Wann immer sich der Bahn-Chef zu Stuttgart 21 äußert, tritt er energisch für das Projekt ein. Dabei wurmen ihn mehrere Dinge: Zum Beispiel, dass die Verträge kurz vor seinem Amtsantritt im Mai 2009 unterzeichnet wurden. "So etwas macht man nicht", sagte Grube einmal: "Einen derart folgenschweren Vertrag zu unterzeichnen, obwohl man weiß, dass bald ein neuer Vorstandschef kommt." Zwar hält er das Projekt für sinnvoll, aber nicht um jeden Preis. Hätte er gewusst, was er heute weiß, nämlich dass der Bahnhof 6,8 Milliarden Euro kosten könnte, er hätte den Bau abgeblasen. Jetzt aber ist es zu spät für einen Abbruch, da ist er sich mit seinem Infrastrukturvorstand Volker Kefer einig. "Wir müssten zwei Milliarden Euro abschreiben", sagte Grube im Verkehrsausschuss des Bundestags. Statt eines Rekordgewinns würde die Bahn jahrelang Verlust schreiben. Und deshalb sind Grube und Kefer entschlossen, die Sache durchzuziehen. Lust auf das Bauwerk haben sie beide nicht mehr. Zumal sie genau wissen, dass die Kosten weiter steigen könnten, und die Gegner nicht lockerlassen werden.

Alexander Kirchner, Chef der mächtigen Bahngewerkschaft EVG und Vize-Vorsitzender des Aufsichtsrats der Bahn, möchte ein gut funktionierendes Bahnsystem, das möglichst viele Menschen auf die Schiene bringt. Geht die Rechnung bei Stuttgart 21 auf? Kirchner zweifelt. Vor allem wüsste er gern, ob die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg sich an den Kosten eines Ausstiegs sowie an denen für ein Alternativprojekt beteiligen würden. Und es interessiert ihn, ob Stadt und Land Schadenersatz von der Bahn verlangen würden: Bei einem Abbruch könnte sie weder der Stadt die versprochenen Grundstücke übertragen noch die versprochenen Zugverkehre liefern. An diesem Montag wollen sich die Arbeitnehmervertreter des Aufsichtsrats noch einmal beraten. Eine einheitliche Linie aber wird es wohl nicht geben. Einige sind genauso ratlos wie Kirchner, andere haben sich ihre Meinung bereits gebildet: Sie werden gegen den Weiterbau stimmen. "Die Mehrkosten steigen gerade ins Unermessliche", heißt es von dieser Seite. "Wenn die Bahn das alles übernehmen will, ist doch klar, wer das am Ende wieder erwirtschaften muss: die Arbeitnehmer."

Wenn es in Stuttgart etwas zu verhandeln gibt für die Bahn, fliegt Vorstand Volker Kefer aus Berlin ein. Wenn es gerade nichts zu verhandeln gibt und trotzdem Ärger, also im Grunde dauernd, fehlt dem Milliardenprojekt S 21 vor Ort ein Gesicht. Eigentlich müsste Stefan Penn diese Rolle ausfüllen, der Projektleiter. Aber der ist Ingenieur, kein Manager, und hofft, endlich richtig losbuddeln zu können: Noch ist kein Tunnel gegraben. Ein paar Jahre lang war er auch im S-21-Controlling eingesetzt - manche Kritiker finden, das spreche nicht wirklich für ihn. Dann gibt es in Stuttgart noch einen Projektsprecher, den freundlichen schwäbischen IT-Unternehmer und Grube-Freund Wolfgang Dietrich. Er leitet das S-21-"Kommunikationsbüro", das jedoch substanzielle Dinge oft nur unter Druck kommuniziert. Nun wirkt es jedenfalls, als ob sie bei der Bahn bemerkt hätten, dass es in Stuttgart hakt: Einen Referenten für "Veränderungsmanagement" suchen sie gerade für den Standort Stuttgart. Überschrieben ist die Anzeige mit: "Kein Job wie jeder andere." Das dürfte auch für die Stellenausschreibung "Projektingenieur Termin- und Kostenmanagement" gelten. Die wichtigste Aufgabe dieser neuen Mitarbeiter: die Steuerung der termin- und kostengerechten Abwicklung des Projekts.

Von Leidenschaft kann keine Rede sein. Wenn möglich, vermeidet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) es, sich überhaupt zu Stuttgart 21 zu äußern. 2010, vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg, hatte sie noch ihren Namen mit S 21 verknüpft. Nun ahnt sie wohl, dass mit dem Projekt kein Wähler zu gewinnen ist. Aber genauso weiß sie, dass sie nicht einmal ansatzweise beurteilen kann, ob der Tiefbahnhof sinnvoll ist. Das geht übrigens vielen anderen auch so, was sie aber nicht davon abhält, sich dauernd dazu zu äußern. Von einem jedoch ist Merkel zutiefst überzeugt: Dass Verlässlichkeit und Vertragstreue Säulen eines Rechtsstaats sind. Nur wenn Vertragspartner sich darauf verlassen können, dass Beschlossenes gilt, werden sich weiterhin Investoren für Infrastrukturprojekte finden. Merkel sieht auch die Gefahr, dass der für die Energiewende dringend nötige Bau von Stromtrassen gefährdet ist, wenn Bürger allzu leicht Partikularinteressen durchsetzen können. Und deshalb ist die Kanzlerin dafür, Stuttgart 21 weiterzubauen. Da ist sie sich mit dem in der Sache auch eher leidenschaftslosen Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) einig. Eines jedoch will keiner der drei erleben: dass die Kosten über die im Raum stehenden 6,8 Milliarden Euro steigen. Sollte das passieren, könnten sie allerdings auch nichts machen. Denn wer glaubt, dass es bereits jetzt für einen Ausstieg zu spät ist, kann in zwei Jahren kaum anderer Meinung sein.

Von den drei Staatssekretären im Aufsichtsrat der Bahn hat zuletzt vor allem Michael Odenwald (Verkehr) von sich reden gemacht: Anfang Februar hatte ein Papier, das Fachbeamte in seinem Auftrag erstellt hatten, bei den Bahnhofsgegnern wahre Glücksgefühle ausgelöst. War darin doch tatsächlich zu lesen, dass man ernsthaft über einen Ausstieg aus Stuttgart 21 nachdenken solle. Doch die Freude währte nicht lang. Wie sich herausstellte, sollte das Papier dem Aufsichtsrat helfen, allen Pflichten aus dem Aktiengesetz nachzukommen, also alle kritischen Fragen zu stellen, die zu stellen sind - damit nicht eines Tages eine Diskussion losgeht wie beim Berliner Flughafen, wo der Aufsichtsrat dem Treiben lange unkritisch zugesehen hatte. Wie die Staatssekretäre nun letztlich abstimmen werden, entscheiden sie selbst. Eine Weisung der Minister erhalten sie schon deshalb nicht, weil sie laut Aktiengesetz persönlich haften. Sie werden also alles abwägen und dabei auch berücksichtigen müssen, dass der Bundesrechnungshof das Projekt kritisch sieht.

Das war schon eine Überraschung: Eigentlich hatte die FDP immer für Stuttgart 21 votiert, doch Anfang Februar meldete der verkehrspolitische Sprecher Oliver Luksic Bedenken an: Die Kosten fräßen "die Investitionsmittel der Bahn für die nächsten Jahre auf, sodass wir dringend das Projekt überdenken müssen", sagte er da. Auch FDP-Generalsekretär Patrick Döring, der im Aufsichtsrat der Bahn sitzt, zeigte sich auf einmal skeptisch. Hintergrund war offenbar die Sorge, der Bahnhof könne Wahlkampfthema werden - und die Wahl somit zu einer bundesweiten Volksabstimmung über Stuttgart 21. Doch die Befürchtung teilten nur wenige in der FDP. "Außerhalb von Stuttgart interessiert sich niemand für den Bahnhof", heißt es aus der Parteispitze. Und so lautet die Devise nun: das Thema möglichst fern halten. Schließlich regiert die FDP weder in Baden-Württemberg noch in Stuttgart. Döring wird am Dienstag vermutlich doch für das Projekt stimmen - weil er den Weiterbau angesichts der Ausstiegskosten für die bessere von zwei schlechten Alternativen hält.

Schon 1996, erzählt Fritz Kuhn gern, habe er im Landtag die erste Rede gegen S 21 gehalten. Jetzt ist er Oberbürgermeister von Stuttgart und damit in der komfortablen Position, im Bandenspiel mit seinem grünen Parteifreund Kretschmann der Bahn das Leben erschweren zu können. Kuhn tut das ohne Schaum vor dem Mund und doch eine Spur schärfer als der Ministerpräsident. Wie das Land will die Stadt sich nicht an Mehrkosten beteiligen - es gibt sogar einen Gemeinderatsbeschluss, der bei zusätzlichen Zahlungen einen Bürgerentscheid vorsieht. Kuhns Spielraum ist aber begrenzt: Er steht einer Gemeinderats-Mehrheit aus CDU, SPD, Freien Wählern und FDP gegenüber, die kürzlich per Resolution die rasche S-21-Fertigstellung forderte. Auf der anderen Seite erwartet die wiedererstarkte Protestbewegung gegen den Tiefbahnhof die Unterstützung des OB. Der will S 21 jedoch nicht um jeden Preis verhindern, er will vor allem in Ruhe regieren. Und die Chance, auf dem geräumten Gleisfeld ein neues Stadtviertel zu gestalten, ist Kuhn auch nicht zuwider.

Winfried Kretschmann hat sich eine Antwort zurechtgelegt, die er beim Thema Stuttgart 21 allzeit abspielen kann, egal, ob sie auf die Frage passt: "Die Volksabstimmung gilt. Wir beteiligen uns nicht an den Mehrkosten - mir gäbet nicht mehr! Wir eröffnen keine Ausstiegsdiskussion." Letzteres braucht der grüne Ministerpräsident auch nicht, das tun andere für ihn. Darunter zahlreiche Parteifreunde, die nicht den vertragstreuen Regierungschef geben müssen. Die Lage ist bequem für den Tiefbahnhofsskeptiker Kretschmann: Er kann zusehen, wie die Bahn herumstolpert. Und wie sein S-21-begegeisterter Partner SPD mit jeder Enthüllung tiefer in Erklärungsnot gerät. Allerdings ist Kretschmann auch die Aussicht nicht geheuer, bei einem Aus für S 21 eine Baubrache im Stuttgarter Zentrum mitverantworten zu müssen. Den Ärger, den auch jede Alternativlösung mit sich bringen würde, hätte ja er am Hals. Seine Regierung wäre zwar wohl bereit, der Bahn bei einem Plan B entgegenzukommen - mehr zahlen will sie angesichts der gespannten Haushaltslage trotzdem nicht.

Unlängst hatte Thomas Strobl eine Idee, er hatte sie dem Vatikan geklaut: ein "Konklave" bei Stuttgart 21 - alle Partner einsperren und erst wieder rauslassen, wenn die Mehrkosten verteilt sind. Strobl ist Schwiegersohn des S-21-Fans Wolfgang Schäuble und Vorsitzender der CDU Baden-Württemberg, er hat die tollkühne Mission, seine einst stolze Partei wieder aufzurichten nach dem Sturz von der Macht 2011. Gegen den sagenhaft beliebten Kretschmann hat er nicht viel in der Hand - eigentlich nur das Ja zu Stuttgart 21 bei der Volksabstimmung 2011. CDU-Ministerpräsident Erwin Teufel hatte das Projekt 1994 mithilfe einer Schwaben-Runde um Bahnchef Heinz Dürr und Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann eingefädelt. Sein Nachfolger Günther Oettinger hatte 2007 die Realisierung des bei der Bahn inzwischen ungeliebten Vorhabens gefordert, als er nach der Filbinger-Affäre einen Befreiungsschlag brauchte - und die Bahn Unterstützung aus Stuttgart für ihre Privatisierung. Heute werden zwar auch in der CDU Bahn-kritische Stimmen laut. Aber fast immer verbunden mit einem Stoßgebet: Stuttgart 21, unser Baby, darf nicht sterben.

Das Heimkommen macht Martin Herrenknecht derzeit keinen Spaß. In Kuala Lumpur, Riad oder der Türkei: Überall freuen sich die Menschen, wenn der badische Ingenieur mit seinen Maschinen auftaucht und Tunnel bohrt. Nur S-738 kommt nicht voran. Seit Monaten wartet das 120 Meter lange Monstrum auf seinen Einsatz in Stuttgart. "Wir wollen endlich losmachen", sagt Herrenknecht, die aktualisierten S 21-Kostenschätzungen hält er für "absolut plausibel". Und wenn das Projekt doch gestoppt wird? Die Hälfte des Auftragsvolumens hat die Bahn vergeben bislang. Viele Geschäftsführer würden ihr Ausfallhonorar abholen, insgesamt 500 Millionen Euro, so schätzt die Bahn - und froh sein, die nervige Baustelle zu verlassen. Herrenknecht will davon nichts wissen, ihm geht es um die Ehre deutscher Ingenieurkunst: "Wer an einen Abbruch denkt, der muss hirnverschoben sein." Der Flughafen in Berlin, der Bahnhof in Stuttgart - kein Infrastrukturprojekt laufe mehr glatt. "Mir hat ein Projektpartner in Shanghai gesagt: Deutschland ist wie ein lebendes Museum. Ich will nicht, dass er recht behält!"

Der Juchtenkäfer ist ein scheues Wesen, ein Einsiedler. Die Baumrindenhöhle, in der er geboren wurde, verlässt er nur, wenn ihn der Weltenlauf wirklich dazu zwingt. Praktischerweise lief die Welt am Juchtenkäfer über Jahrhunderte sehr verlässlich vorbei - bis die große Bahn bei der Rodung des Schlossgartens auf den kleinen Krabbler traf. Das Insekt schaffte es sogar in den Sprachschatz der Kanzlerin, die es indes eklatant an Warmherzigkeit mangeln ließ: "Bei aller Schutzwürdigkeit kann es nicht sein, dass Juchtenkäfer und Kamm-Molche herhalten müssen, um Großprojekte zu verhindern." Verhindert hat das Tierchen Stuttgart 21 nicht, aber doch ein wenig aufgehalten - der Juchtenkäfer befindet sich zurzeit im historischen Zenit seiner Macht. Das scheint ihm Gelassenheit zu geben, er hält sich nun raus aus den Händeln der Menschen. Er sitzt in den Wipfeln sorgsam eingezäunter Bäume, lauscht den Baggern, die um ihn herum baggern müssen, und hat sicher erfreut vernommen, dass die EU gerade extra für ihn ein "Artenhilfskonzept" vorgelegt hat.

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Quelle:
SZ vom 04.03.2013
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