Süddeutsche Zeitung

Taliban in Afghanistan:Auf dem Vormarsch

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Die Islamisten legen in Afghanistan einen Flughafen lahm und liefern sich Gefechte um die Metropole Herat. Bundesinnenminister Horst Seehofer will weiter Menschen in das Land abschieben.

Von Tobias Matern

Es vergeht im Moment kein Tag ohne Erfolgsmeldungen für die Taliban. Die Islamisten liefern sich an den Außenbezirken der drittgrößten Stadt Afghanistans Herat Gefechte mit den Sicherheitskräften. Sie beschießen den Flughafen der im Süden gelegenen Stadt Kandahar mit Raketen und legen den Betrieb des Airports zeitweilig lahm. Sie kontrollieren einen Grenzposten zu Pakistan und kassieren dort Zölle.

Der Westen unter Führung der USA hat seinen Einsatz in Afghanistan beendet, aber der Krieg geht weiter. Nun geschieht dies vor allem zu Lasten der Zivilbevölkerung und der afghanischen Sicherheitskräfte, die im Kampf gegen die Taliban schwere Verluste einstecken müssen. Das erste Halbjahr des Jahres 2021 war nach aktuellen Zahlen der Vereinten Nationen für die Afghaninnen und Afghanen so blutig wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Demnach sind mehr als 5000 Zivilisten verwundet oder getötet worden. Die Zahlen gefallener afghanischer Soldaten veröffentlicht die Regierung in Kabul erst gar nicht, um die Moral der Truppe nicht weiter zu schwächen.

Der Süden Afghanistans, vor allem die Provinzen Helmand und Kandahar, sind seit jeher Hochburgen der Taliban. Der Raketenbeschuss des Flughafens in Kandahar ist vor allem ein Beleg ihrer Macht. Längst haben die Islamisten aber ihren Einfluss auf alle Landesteile ausgeweitet, kontrollieren inzwischen mehr als 50 Prozent des Territoriums. Auch im Norden Afghanistans, dem ehemaligen Einsatzgebiet der Bundeswehr, haben sie zahlreiche Distrikte eingenommen. Die Kämpfe in den Außenbezirken Herats unweit der Grenze zu Iran zeigen, dass die Taliban auch die großen Städte ins Visier nehmen. Selbst ein UN-Gebäude in Herat geriet unter Beschuss, dabei starb ein Wachmann.

Auch diplomatische Erfolge können die Taliban inzwischen verzeichnen, etwa in China

Nach wie vor verweigern sich die Taliban weitgehend den Friedensgesprächen mit der afghanischen Regierung, sie wollen militärisch weiter vorrücken. In Kabul rechnen Beobachter damit, dass sie so die Regierung von Ashraf Ghani zur Aufgabe zwingen wollen. Auch diplomatische Erfolge können die Taliban verzeichnen, etwa, dass der chinesische Außenminister Wang Yi persönlich in Peking eine Delegation der Islamisten empfangen hat. Die Menschen in Afghanistan fürchten, dass die Taliban nach dem Ende des 20-jährigen westlichen Militäreinsatzes wieder den Griff nach der ganzen Macht im Land anpeilen.

Trotz der Sicherheitslage will Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) aber manche Afghanen in ihre Heimat zurückschicken. "Wir verhandeln gerade mit Afghanistan, damit wir Straftäter weiterhin dorthin abschieben können", sagte er der Bild am Sonntag. "Wie will man denn verantworten, dass Straftäter nicht mehr in ihr Heimatland zurückgeführt werden können?", fragte er angesichts von Forderungen aus der SPD, vorerst niemanden mehr in das Land am Hindukusch abzuschieben.

In den vergangenen Jahren waren ausschließlich Männer - darunter Straftäter und sogenannte Terrorgefährder - gegen ihren Willen nach Afghanistan zurückgebracht worden. Unterstützung erhielt Seehofer von FDP-Chef Christian Lindner, der sich gegen einen pauschalen Abschiebestopp nach Afghanistan aussprach. "Gefährder und Straftäter dürfen sich bei uns nicht sicher fühlen, sie müssen aus Deutschland in ihr Heimatland abgeschoben werden", sagte er der Deutsche Presse-Agentur (dpa). Grünen Co-Parteichef Robert Habeck forderte die Bundesregierung in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hingegen dazu auf, Flüchtlinge aus Afghanistan angesichts des dortigen Vormarsches der Taliban nicht mehr abzuschieben.

In einem Brief an Seehofer forderten unterdessen vier Landesminister der Grünen und der Linken, den sogenannten Ortskräften der Bundeswehr die Einreise nach Deutschland deutlich zu erleichtern. "Wir sehen hier den Bund in der moralischen Pflicht, aktiv für die zügige, strukturierte und unbürokratische Ausreise aller in Afghanistan verbliebenen Ortskräfte und ihrer Familien zu sorgen", heißt es in dem Schreiben, aus dem die dpa zitierte. Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) hat es gemeinsam mit ihren Amtskolleginnen Katharina Binz (Grüne) aus Rheinland-Pfalz und Elke Breitenbach (Linke) aus Berlin sowie Thüringens Migrationsminister Dirk Adams (Grüne) unterzeichnet.

Die Bundesregierung hat zwar Visa für afghanische Ortskräfte erteilt, hunderte weitere ehemalige Dolmetscher, Fahrer und Köche fühlen sich aber von Berlin im Stich gelassen. Bislang, so will es die Bundesregierung, sollen die Ortskräfte für Organisation und Kosten der Ausreise selbst aufkommen. Das privat organisierte "Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte" sammelt Spenden für die ehemaligen Helfer der Bundeswehr, die sich aufgrund des Vormarsches der Taliban vor einer Rache der Islamisten fürchten.

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