Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Mein lieber Schwan

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Der Queen gehören ziemlich viele Schwäne im Vereinigten Königreich. Wenn man erleben will, wie britisch die Insel ist, dann verbringt man am besten einen Tag beim Royal Swan Upping auf der Themse.

Von Michael Neudecker, London

David Barber ist wahrscheinlich der einzige Mensch der Welt, der in diesem Aufzug nicht lächerlich aussieht. Er trägt ein rotes Jackett mit goldenen Verzierungen, dazu weißes Hemd, weiße Hose und eine dunkelblaue Krawatte mit Schwänen und Kronen drauf. Seine Kopfbedeckung ist eine Kapitänskappe, hinter das Wappen der Queen hat er eine Schwanenfeder gesteckt. Es ist heiß an diesem Tag in London, mehr als 30 Grad, aber Barber zieht das Jackett nicht aus.

David Barber, MVO, ist Her Majesty's Royal Swan Marker, der Schwanenbegutachter Ihrer Majestät. Das MVO steht für "Member of the Royal Victorian Order", einen Orden, der von der Queen vergeben wird. Barber ist ein groß gewachsener Mann, sonnengegerbte Haut, große Hände, eine Stimme wie ein Radiomoderator, das Stolzieren hat er von den Schwänen gelernt. Wie alt er sei? David Barber lächelt breit, klopft einem auf die Schulter. "My own business", sagt er, meine Sache.

Wenn man erleben will, wie britisch Großbritannien sein kann, dann verbringt man am besten einen Tag mit ihm auf der Themse während einer Prozedur, die "Royal Swan Upping" heißt. Dass der Queen alle Schwäne gehören, das ist royales Basiswissen, ganz genau betrachtet ist es so: Alle Schwäne, die im Königreich ohne Markierung auf offenem Gewässer schwimmen, sind Eigentum des Palastes. Das wurde vor mehreren Hundert Jahren festgelegt, um die Schwäne zu schützen, denn Schwäne galten in England früher als gutes Essen. Allerdings übt der Palast dieses Recht nur auf der Themse aus, aus praktischen Gründen.

Das jährliche Zählen und Begutachten der Schwäne geht zurück ins zwölfte Jahrhundert, seit dem 15. Jahrhundert teilt sich der Palast die Schwäne mit zwei Livery Companies. Diese wiederum sind aus den mittelalterlichen Gilden entstanden, es gibt in London 110 Livery Companies, mit ehrwürdigem Wappen und in verschiedenen Branchen. Die Schwäne teilt sich der Palast seit 600 Jahren mit Vintners und Dyers, zwei der ältesten und besonders ehrwürdigen Handelsfirmen. Und zwar im Verhältnis 50 zu 50: Die Hälfte der Schwäne bekommen keinen Ring, sie gehören der Queen, die andere Hälfte teilen sich Vintners und Dyers. 115 Jungschwäne haben sie beim diesjährigen Swan Upping diese Woche aus dem Wasser gehoben und markiert.

Ein Schauspiel, das so reibungslos und ruhig abläuft wie eine einstudierte Choreografie

Die beiden Schwanenzähler von Vintners und Dyers tragen ein dunkelblaues Jackett, auch sie haben eine Schwanenfeder an ihre Kapitänsmützen gesteckt. Wenn man die beiden fragt, wer entscheidet, welche Schwäne für wen markiert werden, zeigen sie auf den Königlichen Schwanenzähler, der sich gerade zu einem Tier hinunterbückt. Der Boss hier ist Barber. Einmal, als der Mann von Vintners zwei Schwäne markieren will, ruft Barber seinen Namen, der Vintners-Mann schaut auf, Barber hebt einen Finger und sagt nur: "One." Der Vintners-Mann nickt.

Auch sonst sind die Verhältnisse eindeutig. Die drei Schwanenzähler werden in schmalen Ruderbooten über die Themse gefahren, jedes hat eine Fahne mit dem Wappen der Queen beziehungsweise dem der beiden Firmen drauf, sie sitzen jeder auf einer eleganten, antik wirkenden Holzkiste, in der Hand die Schnüre für das Steuerruder. Die beiden Herren von Vintners und Dyers haben je zwei Ruderer. David Barber hat drei.

Normalerweise dauert der jährliche Zensus fünf Tage, vergangenes Jahr ist er wegen Corona ausgefallen, dieses Jahr wurde er auf drei Tage verkürzt. Auch der Abschnitt auf der Themse ist nicht so lang wie sonst, gefahren wurde diese Woche von der Eton Bridge, Berkshire, nach Moulsford, Oxfordshire. Jeden Tag werden die Ruderboote begleitet von Motorbooten, die sie die meiste Zeit ziehen, das war auch früher schon so.

Aber wenn wieder eine Schwanenfamilie auftaucht, dann ruft jemand laut "Hoooold up!", die Motorboote ziehen sich zurück, die Ruderer paddeln, und dann beginnt ein Schauspiel, das so reibungslos und ruhig abläuft wie eine einstudierte Choreografie.

Die Schwäne werden auf Verletzungen untersucht, gestreichelt, gewogen

Die Boote kreisen die Schwanenfamilie ein, die Schwäne schnattern. Die Ruderer, die gleichzeitig die Fänger sind, plätschern mit den Händen auf dem Wasser, und dann packen sie zu, ziehen die Schwäne ins Boot und binden ihnen die Füßchen zusammen. "Gut, gut", sagt Barber, und "ja, jetzt hast du ihn." Sie bringen die Schwäne an Land, wie kleine Pakete werden sie am Ufer abgelegt. Dann steigt auch David Barber aus.

Die Schwäne werden auf Verletzungen untersucht, gestreichelt, gewogen, Barber und die anderen beiden machen Notizen in ihre Büchlein, Barbers kleiner Bleistift sieht aus, als sei schon viel mit ihm geschrieben worden. Alles wird vermerkt, Gewicht, Größe, Datum, in handgezogenen Tabellen, Jahr für Jahr, Barber hat viele dieser Büchlein zu Hause. Nach zehn Minuten ist meist alles vorbei. Ob die Schwäne diese Prozedur nicht stresse? "Oh, sie lieben es", sagt David Barber.

Begleitet werden die drei Ruderboote noch von einem vierten, auf dem Wendy Hermon sitzt. Sie betreibt eine Schwanenstation in London, sie kennt die Schwäne besser als irgendjemand sonst hier. Die Ruderer sagen, niemand fange die Schwäne so gut wie Wendy.

Wendy Hermon trägt ein T-Shirt, auf dem der Name ihrer Station steht, "Swan Support", sie fühlt sich geschmeichelt vom Kompliment der anderen, aber ach, sagt sie, "ich mache das ja auch schon seit 30 Jahren". Die Schwäne sind ihr Leben, die verletzten pflegt sie, bis sie gesund sind, und wenn eine Ruderregatta stattfindet, sammelt sie mit Barbers Leuten die Schwäne für die Dauer des Rennens ein und bringt sie zu sich, damit ihnen nichts passiert. Es ist ihr wichtig, dass es hier nicht nur um royales Theater geht, sondern tatsächlich darum, sich um die Schwäne zu kümmern. Auch deshalb werden die Schwäne gezählt: um einen Überblick über ihre Population auf der Themse zu behalten.

"Schauen Sie", sagt Wendy Hermon und zeigt auf einen Jungschwan, "der wurde von einem Motorboot verletzt", sie streicht dem Schwan sanft über das weiche Gefieder, ehe sie die Schnüre von den Füßen löst und ihn zurück ins Wasser setzt.

David Barber sagt, Erziehung und Bewahrung, das sei das Wichtigste an seinem Job

Früher war der Schwanenzensus eher keine tierfreundliche Angelegenheit. Bis vor 30 Jahren wurde den Tieren ein Flügel gebrochen, damit sie nicht wegfliegen konnten, und noch bis 1998 wurden statt kleinen Ringen an den Füßen zur Markierung Kerben in die Schnäbel geritzt. Eine Kerbe für Dyers, zwei für Vintners, keine für die Queen.

Heute wäre das natürlich unvorstellbar, heute geht es mehr darum, Schulkindern die Tiere zu zeigen und die Menschen dafür zu sensibilisieren, gut aufzupassen auf Fluss und Tier. David Barber sagt, Erziehung und Bewahrung, das sei das Wichtigste an seinem Job. Das restliche Jahr kümmert er sich wie Wendy Hermon um die Beobachtung der Schwäne, er organisiert Vorträge und Projekte mit Schulen. "Ich habe mein ganzes Leben auf diesem Fluss gearbeitet", sagt er, als die Boote mal wieder an einer Schleuse warten müssen. Früher hat er eine Bootswerft auf der Themse betrieben, seinem Vorgänger hat er immer wieder mit den Schwänen geholfen, und als der 1993 in Rente ging, wurde Barbers Name gemeinsam mit 21 weiteren dem Palast vorgeschlagen. Die Queen ernannte ihn. Das mit der Erziehung und Bewahrung sei seine Idee gewesen, "das hat dem Palast gefallen", sagt er.

Am Ufer versammeln sich jedes Mal die Menschen, wenn wieder eine Schwanenfamilie gefangen wird, denn es geht immer um die Familien, vor allem die Jungschwäne, die noch nicht gezählt und markiert wurden. Fotos werden gemacht, Kinder quietschen begeistert, hier ein Ooh, dort ein Aah, David Barber gibt gerne Auskunft. Vor ein paar Jahren war Prinzessin Anne, die Tochter der Queen, zu Gast, "sie hat sich zu mir aufs Boot gesetzt", erzählt Barber, "sie ist wirklich eine sehr angenehme Person", er nickt. Auch die Queen war schon dabei, 2009 ist sie auf der Alaska nebenhergefahren, einem kleinen Dampfschiff aus dem 19. Jahrhundert. Es war das erste Mal seit mehreren Hundert Jahren, dass ein Monarch das Swan Upping begutachtete.

Die Queen bei der Schwanenzählung, das erfordere doch sicher viel Vorbereitung, nicht wahr? David Barber verdreht die Augen, "oh my", sagt er. Die Queen sei jedoch wahrhaft eine "lovely lady", das "lovely" schwingt dabei so schön, wie das nur die Briten können. Er lässt keinen Zweifel daran, dass der Aufwand die Sache wert war.

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