Süddeutsche Zeitung

Typisch deutsch:Das Ende des Trimm-Pfades

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Wachsen lassen oder abrasieren? Der Männerbart ist in Syrien eine politische Glaubensfrage von existenziellem Ausmaß. In München hingegen werden über ihn stilistische Urteile gefällt.

Kolumne von Mohamad Alkhalaf

Zu den Nebenerscheinungen einer Flucht zählt der ungezügelte Bartwuchs. Die regelmäßige Gesichtsrasur wird beim Flüchten von anderen Bedürfnissen verdrängt, zum Beispiel vom Überlebensdrang. Und so kommt es, dass ich im Frühjahr 2016 nicht sonderlich beleibt, aber dafür umso behaarter in München ankam. Ich spürte die Blicke der Glattrasierten am Hauptbahnhof - und sofort gewann das Thema Rasur wieder an Relevanz.

Ich war zu der frühen Überzeugung gelangt, dass die Deutschen keine Bärte mögen. Beharrlichkeit ja, aber nicht beim Haarwuchs im Gesicht. So wie einst die Fußballer Bierhoff, Klinsmann und Klose, die ich seit Ende der 90er Jahre verfolge - wenngleich für Klose und Co. nie Fluchtgefahr bestünde.

In Syrien haben sich die Dinge bekanntermaßen anders entwickelt. Vor dem Krieg wurden Bärte durch das Regime von Bashar al-Assad in Schulen und Universitäten verboten, gleiches galt für Mitarbeiter in Regierungsabteilungen und Institutionen. Grund war wohl, dass Bartträgern tendenziell eher nachgesagt wurde, Assad kritisch zu sehen. Dass viele Syrer einfach gerne Bärte tragen, etwa weil sie dem Beispiel des Propheten Muhammad folgen, blieb unberücksichtigt.

In Deutschland geht es bei diesem Thema weniger um Politik als um Fragen der Mode. Der Oberlippenbart etwa galt lange als Kernsymbol absoluter Stillosigkeit. Doch wie das mit der Mode so ist: Wenn sich plötzlich Hollywoodstars wie Brad Pitt, Jude Law oder Leonardo Di Caprio wieder mit Schnauzer oder Vollbart in der Öffentlichkeit zeigen, dann bleibt die Wirkung auch in München nicht aus.

Zwei Jahre war ich inzwischen in München, als ich mich, wie es Münchner bisweilen zu tun pflegen, in einem ortsansässigen Brauhaus aufhielt. Dort traf ich einen bayerischen Mann mit einem beeindruckenden Exemplar von einem Bart. Nach unten lang und gekämmt, zur Seite und nach vorn gekräuselt. Ich sprach mit ihm, hatte aber Konzentrationsprobleme, weil ich damit beschäftigt war, das silberglänzende Kunstwerk zu betrachten. Voluminös und gleichwohl wild wie ästhetisch- geheimnisvoll gar. Als sei er einem Bildnis im Holzfällermuseum entstiegen.

In Syrien hatte ich einen Bart wie diesen nie zu Gesicht bekommen. Stattdessen bekam ein IS-Kämpfer mich an einem IS-Kontrollposten zu Gesicht: unrasiert, aber bartfrei, so wie Assad es schätzt - aber eben der IS gar nicht. Ich wäre im Gefängnis gelandet, hätte mich nicht ein Zellengenosse aus vorangegangen Haftzeiten rausgehauen. Er war inzwischen vom IS rekrutiert, verhalf mir aber des Nachts heimlich zur Flucht.

Ich habe mir inzwischen wieder einen Bart wachsen lassen. Meine Schüler in der Schule bemerkten es sofort und machten es zum Thema. Ich erkläre dann bisweilen, dass es mit dem Männerbart in Syrien manchmal ein bisschen vergleichbar sei wie mit dem Kopftuch der Frauen im Iran und anderen frauenfeindlichen Staaten. Sprich: Es besteht keine Wahlfreiheit wie in Deutschland.

Die Schüler fragen nun, wie lange ich ihn wachsen lasse. Bis er meinen Bauch berührt, erkläre ich. Oder meine Füße. Vielleicht forme ich ihn mit Bartwichse nach oben und bewerbe mich bei den Höhnern in Köln zum Mitsingen. Dann flüchten wahrscheinlich alle anderen.

Ihre Flucht hat zwei Journalisten nach München geführt. In einer wöchentlichen Kolumne schreiben sie, welche Eigenarten der neuen Heimat sie mittlerweile übernommen haben. Die Kolumne "Typisch Deutsch" erscheint immer am Freitag oder Samstag auf der SZ-Leuteseite. Die gesammelten Texte finden sie hier .

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