Süddeutsche Zeitung

Corona-Regeln am Starnberger See:Wer unter der Sperrung der Stege leidet

Lesezeit: 3 min

Nur durch Schwimmen kann Andreas Brückel seine Beweglichkeit erhalten - doch die Bäder sind geschlossen und den Weg zum See hat das Landratsamt verbarrikadiert.

Von Carolin Fries, Starnberg

"Eigentlich ist es eine Sauerei", sagt Andreas Brückel. Der schwerbehinderte 60-Jährige ist mit seinem Rollstuhl bis zum Baugitter gerollt, das den weiteren Zugang zum Steg auf den Starnberger See versperrt. Im Sommer schwimmt er hier täglich, "für mich ist Schwimmen die einzige Möglichkeit, die Bewegungsfähigkeit zu erhalten", sagt er. Doch ins Wasser kommt der Starnberger aktuell nirgends, denn die Bäder sind geschlossen und die Stege auf Anordnung des Landratsamtes verbarrikadiert. Zu hoch bewertet die Kreisbehörde dort das Ansteckungsrisiko mit dem Coronavirus.

Die Sperrung trifft Menschen mit Behinderung besonders hart, kritisiert Brückel, der sich seit vielen Jahren im Inklusionsbeirat der Stadt Starnberg engagiert und nun seinen Protest per E-Mail an Landrat Stefan Frey (CSU) formuliert hat. Er kann nicht über das steinige Ufer in den See, auf dem Weg bleiben die Räder seines Aktiv-Rollstuhls im Kies stecken. Ähnlich gehe es Menschen mit Rollatoren und anderen Gehhilfen. Doch gerade Menschen mit Behinderung tue die Bewegung im Wasser oft besonders gut, um stark beanspruchte Muskelpartien zu entspannen und andere zu kräftigen.

Brückel selbst entlastet durch regelmäßiges Schwimmen seinen Rücken, er leidet unter Skoliose, einer seitlichen Verkrümmung der Wirbelsäule. Eine halbe Stunde Rückenschwimmen, das ist für ihn nicht Freizeit, sondern Gesundheitsfürsorge. "Ich kann eben nicht Joggen gehen oder Radfahren." Die Einschränkungen der Pandemie träfen Behinderte in besonderem Maße - "warum muss der Landkreis da noch eins obendrauf setzen?", fragt er sich. Oder habe die Behörde die etwa 14 000 Menschen mit Behinderung im Landkreis einfach nur vergessen?

"Es wäre nicht das erste Mal, dass die Politik uns nicht auf dem Schirm hat", sagt Claus Angerbauer, Vorsitzender des Inklusionsbeirats des Landkreises. Der 64 Jahre alte Weßlinger stimmt Brückel zu, "Behinderte sollten Zugang zu den Stegen bekommen, das ist nur legitim." Er selbst ist seit knapp 30 Jahren blind und sei ebenfalls auf einen Steg angewiesen, um im Weßlinger See baden zu können. Er will sich darum um Ausnahmegenehmigungen bemühen, sagt er, "da muss eine Möglichkeit geschaffen werden". Schließlich stehe die Badesaison unmittelbar vor der Tür, bereits am kommenden Wochenende soll es bis zu 25 Grad warm werden.

Spätestens dann würde Brückel wohl in seinen Neopren-Anzug schlüpfen, um frühmorgens in Possenhofen eine Runde zu drehen. Mit einem Satz stemmt er sich aus dem Rollstuhl auf den Steg. "So geht das, aus dem Sitzen lass ich mich dann Stufe für Stufe ins Wasser rutschen", erzählt er mit Blick auf den See. Das letzte Mal war er im Oktober kurz vor dem Lockdown in einem Hallenbad, "im Winter ist das mein Ersatz". Doch diesen Winter habe er Mühe gehabt, sich fit und gesund zu halten. "Ich verstehe das nicht", sagt er und schüttelt den Kopf. "Barrierefrei 2023" habe sich die Stadt als Motto auf die Fahnen geschrieben und als Modellprojekt ausgerufen. "Unglaubwürdig" findet Brückel das. Er fordert echte Inklusion, keine Ausgrenzung von Behinderten, aber auch keine Sonderrechte.

Maximilian Mayer, Behindertenbeauftragter des Landkreises, sieht durch die Stegsperrungen niemanden ausgegrenzt. Bestehe ein therapeutischer Bedarf, regelmäßig zu schwimmen, so lasse sich das sicher organisieren, Schwimmbäder gebe es schließlich auch in Reha-Einrichtungen oder Krankenhäusern, sagt er. "Also ehrlich", sagt Brückel zu diesem Vorschlag, "wenn es wirklich wo ein hohes Infektionsrisiko gibt, dann im Krankenhaus". Es handle sich dort auch meist um sehr warme Becken, die vorrangig zur Entspannung gedacht seien und nicht zur Muskelkräftigung und Stabilisierung der Beweglichkeit.

Landrat Stefan Frey (CSU) ist bewusst, "dass die gesperrten Stege manche Menschen in besonderem Maße treffen" und bittet um "ein paar Wochen Geduld". Dann sei das Infektionsgeschehen wohl weitgehend eingeschränkt, zudem der überwiegende Teil der Menschen im Fünfseenland gegen Covid-19 geimpft. Eine Sonderlösung könne er bis dahin nicht anbieten, das lasse sich praktisch einfach nicht umsetzen. "Oder soll ich Stegwächter positionieren?" Bei den Stegen gebe es nur ein "ganz oder gar nicht". Andreas Brückel sagt: "Dann soll er aufsperren und auf den gesunden Menschenverstand der Bürger vertrauen." Er mag nicht mehr warten, sondern endlich mal wieder ins Wasser.

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SZ vom 04.05.2021
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