Süddeutsche Zeitung

Fachkräftemangel:"Ich glaub, Technik ist doch nicht so meins"

Lesezeit: 7 min

Im Akademikerlandkreis Starnberg fehlen immer mehr Auszubildende. Eine jährliche Bustour zu Betrieben soll Abhilfe schaffen. Unterwegs auf Route 5 mit den Hoffnungsträgern des Mittelstands.

Reportage von Viktoria Spinrad, Herrsching/Andechs

Jetzt das Salz. Tibor, 15, schaut auf die Breze vor sich. Er zieht erst die Stirn, dann die Ärmel hoch. Seine Mutter ist Lehrerin, der Vater bastelt Websites. An der Realschule Gauting hat er "Werken" als Fach, zuletzt haben sie hier Tonkrüge mit Fluch-der-Karibik-Emblemen gebastelt. Aber Brezn? "Keine Ahnung", sagt er und dreht sich zum Bäckermeister. Zu Christoph Benedikter, einem Mann mit mehlweißen Schlappen und gestähltem Schlafrythmus. "Trau dich. Einfach drübersalzen", sagt der. Tibor dreht sich zurück und zögert kurz.

Ein Mittwochmorgen im November, Bäckereistube Benedikter in Andechs. Mehlige Holztische, silberne Maschinen. Sie kreischen wie Staubsauger. Es rumpelt, es zischt, es piept. Mittendrin: vier Teenager in Sneakers und weiten Pullis. Davor steht Christoph Benedikter, ein Bäcker mit muskulösen Armen und rasantem Bairisch. Er ist auf Personalakquise. Um die Jugend für das Bäckerhandwerk zu begeistern, hat er ein didaktisch durchdachtes Programm vorbereitet. Tibor und die drei anderen sollen ihre eigenen Brezen backen. "WennsihrLusthabts", rattert er und wirft eine Ladung Teig in den Teiler.

Ein kleiner Wurf für ein großes Problem. Beim Zahnarzt, auf dem Bau, in Kitas, in Kliniken, überall fehlen Fachkräfte. Und es wird nicht besser, denn von den Ausbildungsschulen rückt wenig nach. Im teuren Akademikerlandkreis Starnberg haben die Ausbilderinnen und Ausbilder besonderen Grund zur Verzweiflung. Drei von vier Grundschülern landen auf dem Gymnasium. Sprich: Die Sprösslinge der Vorstände und CEOs machen Abitur, sind dann weg zum Studieren - so entstehen Lücken in den Betrieben. 142 Ausbildungsstellen waren zuletzt unbesetzt. Die mittelständischen Betriebe, Hidden Champions, das Rückgrat der hiesigen Wirtschaft, es ruckelt, es quietscht, es ächzt.

Das weiß auch Christoph Winkelkötter. "Man muss den Leuten das zeigen, was vor Ort passiert", sagt er. Um den Exodus der jungen Leute zu verhindern, hat der Wirtschaftsförderer des Landkreises im Jahr 2009 eine Idee entwickelt. Eine Art betriebliches Speeddating am Buß- und Bettag, wenn die Schüler frei haben und die Betriebe offen. Seitdem fahren einmal im Jahr Busse durch die Region, mit willigen oder vielleicht auch von den Eltern genötigten Teenagern, die dann bei Handwerksbetrieben, Rathäusern oder Gasthöfen aussteigen.

An diesem Mittwoch gibt es 20 Touren. Vier Schüler haben sich die Route fünf ausgesucht. Emilia, 14, Realschülerin mit Engelshaaren und dem Selbstbewusstsein einer Erwachsenen. Die Mama Lehrerin, der Papa arbeitet bei Google in den USA. Und sie dann Bäckerin? Emilia lächelt.

Da ist Nina, 15, achte Klasse, Realschule Gauting. Offener Blick, Harvard-Pulli. Die Mutter Pflegeberaterin, der Vater ITler. Und sie? "Am ehesten was Soziales."

Was er mal werden will? "Kein Plan", sagt Tibor. Wie auch, mit 15

Links im Bus hat sich Sophia, 13, vor dem Handy vergraben. Schwarzer Kajal, schüchterner Blick. Im März ist ihre Familie aus Odessa geflohen und in Herrsching gelandet. Wie es weitergeht? Ungewiss.

Hinten im Bus hat es sich Tibor, 15, gemütlich gemacht, der spätere Brezen-Salzer. Blauer Adidas-Pulli, blaue Nike-Sporthose. Fußballer. Die Mutter Lehrerin, der Vater macht Websites. Ausbildung oder Studium? "Kein Plan", sagt er, vielleicht was mit Technik.

Emilia, Nina, Sophia und Tibor. Schnuppertauchgang für vier Unentschlossene. Er führt zu einem Montessori-Kindergarten, dem Bäcker, einer Zahnarztpraxis und einem Hersteller für Automatisierungstechnik. Die Teenager werden Selfies machen. Sie werden kichern. Und sie werden umworben werden.

9.22 Uhr, erster Stopp am BRK-Montessori-Kindergarten in Feldafing. Vielleicht ja was für Nina? Immerhin: Im Freundeskreis hat sie schon gebabysittet. Federnd hüpft sie aus dem Bus, kurz darauf findet sie sich mit FFP2-Maske im Schneidersitz im Morgenkreis wieder. Die Kita-Kinder gähnen. Mit Holztäfelchen, Teppichen und Gitarrengesang dirigiert die Leiterin, Soo Overbeck, die Morgenroutine. "Alle meine Fingerlein - wollen heute Tierlein sein", singen die Kinder.

Hoffnungsträgerin Nina lässt den Blick durch den Raum wandern. Bunte Länderfähnchen, Herbstblätter auf den Glasscheiben. Sophia, die Ukrainerin, knibbelt an ihren Fingern. Emilia, die mit dem USA-Papa, versinkt immer tiefer mit dem Kopf in ihrer Hand. Tibor, der Fußballer, verfolgt mit den Augen, wie ein kleiner Bub grüne Murmeln aufreiht. Süß, oder? "Joa", sagt er.

Nun gilt es, den Nachwuchs zu überzeugen. In einem Raum im ersten Stock hat Soo Overbeck etwas vorbereitet. Wie eine Poker-Dealerin schiebt sie Klötzchen, Schleifen und Zahlenreihen hin und her, anhand derer sie das Montessori-Konzept erklärt. Doch sie kann es drehen und wenden wie sie will: Im teuren Landkreis Starnberg tun sich die Kitas besonders schwer, Erzieher zu finden.

Auf 61 Ausbildungsstellen im Gesundheits- und Sozialbereich hat es zuletzt nur 41 Bewerber gegeben. Da hilft es auch nicht, dass die Ausbildung zum Kinderpfleger als politische Baustelle gilt, weil sie nicht vergütet wird. Overbeck ist den Weg trotzdem gegangen. Eine Quereinsteigerin aus Korea. Ausbildung mit 40, seit 2012 in der Kita, Montessori-Ausbildung nebenher.

Sie macht den Schülern nichts vor. Es sei schon immer sehr stressig, sagt sie. "Aber es macht viel Spaß mit Kindern. Sie sind lustig drauf." Natürlich müsse man Kinder mögen. Die Anbahnung kulminiert in einer Einladung zum Praktikum. "Kommt zu uns!", sagt Overbeck.

Und, Nina, wäre das nicht was? "Die Kinder waren schon süß", sagt sie. Auch Emilia scheint nicht ganz abgeneigt. Sie könne sich das schon vorstellen, sagt sie. "Vielleicht aber auch Lehrerin." Sophia? "Ich weiß es nicht", sagt sie. Wie auch, in ihrer Lage. Und Tibor? Nachdem er mal mehrere Monate Kinderturnen angelernt hat, weiß er, was es heißt, mit den Knirpsen zu arbeiten. "Ich glaube nicht", sagt er.

Der Bus fährt wieder los. Nina und Emilia haben sich zusammengesetzt. "Mein Vater ist irgendwie IT-Berater. Der sitzt die ganze Zeit am Computer", sagt Nina. Von Berufsfragen geht es schnell zu Netflix-Serien. Kein Wunder, wer weiß schon, was er mit 14 oder 15 machen will. 324 anerkannte Ausbildungsberufe gibt es in Deutschland. Sattler? Schifffahrtskauffrau? Oder doch lieber Sozialversicherungsfachangestellter?

Glaubt man Katja Lindo, scheitert die Verkupplung zwischen Firmen und potenziellen Fachkräften nicht zuletzt am Selbstmarketing der Betriebe. Viele ruhten sich auf den früheren Verhältnissen aus, moniert die Vorsitzende des Starnberger Regionalausschusses der Industrie- und Handelskammer (IHK). "Manche verstehen erst jetzt, dass sie aktiv werden und Wertschätzung vermitteln müssen", sagt sie. Und eben vielleicht auch was auf den Tarif draufzahlen müssen, um die hohen Lebenskosten im Landkreis abzufedern.

Für den Landkreis ist das existenziell. Er gilt als einer der zukunftsträchtigen in Deutschland - aber er hat ein demografisches Problem. Der durchschnittliche Starnberger ist 45,6 Jahre alt - und damit knapp dreieinhalb Jahre älter als der Münchner. Zugleich altert der Landkreis überdurchschnittlich schnell. Im Jahr 2040 ist laut Prognosen mehr als jeder zweite erwachsene Starnberger über 65 Jahre alt. Wer da noch das Backen, Hobeln, und Kinderbetreuen lernen soll, während die Immobilienpreise immer weiter steigen? Eine schwierige Aufgabe für Wirtschaftsförderer Winkelkötter. "Deshalb müssen wir immer wieder machen", sagt er.

Der Bus hält beim nächsten Betrieb: Herrsching, Zahnärzte am Rathaus. In keinem anderen Bereich gab es im Landkreis Starnberg zuletzt so viele unbesetzte Ausbildungsstellen wie in den Zahnarztpraxen. Von 21 Stellen blieben 16 ohne Azubi. Anlass für eine Charmeoffensive.

Die beginnt mit einer Power-Point Präsentation. Vorne steht Praxismanagerin Gisela Waldherr, eine Frau mit hochhackigen Schuhen und zackiger Sprache. Wie interessiert die Schüler denn auf einer Skala von eins bis zehn seien an einer Ausbildung zum zahnmedizinischen Fachangestellten? "Keine Ahnung", sagt Tibor. Vielleicht sechs, sieben?

"Und der macht dann richtig so Zahnspange oder so?"

Waldherr schmeißt den Kescher aus und die Powerpoint an. Auf den 13 Seiten wird mal Bob Dylan zitiert ("Ein Mensch ist dann erfolgreich, wenn er zwischen Aufstehen und Schlafengehen das tut, was ihm gefällt") und mal Willy Brand ("Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten"). Schicke Praxisbilder, 1000 Euro Meisterbonus, die Zahnarzthelferin als Engel. "Ich bin so froh, dass ich diese Wahl getroffen habe", sagt Waldherr. Langsam schiebt Emilia die Hand hoch. Der Zahnarzt, "der macht dann richtig so Zahnspange oder so? Und ihr macht was?" Waldherr erklärt.

Und weil es auch hier nicht nur bei der trockenen Theorie bleiben soll, geht's hoch in die Praxis, vorbei an einem Fischaquarium. "Echt cool", sagt Emilia. Im Behandlungszimmer darf sie einen eigenen Abdruck machen. In den Fingern knetet sie die Paste. "Riecht nach Vanille", sagt sie, während sich ihre Handschuhe rötlich färben. Dann drückt sie der Auszubildenden Anjesa Meha die Paste langsam zwischen die Zähne. Meha zu finden, war ein Glücksfall für die Praxis. Heuer etwa haben sie vergeblich gesucht. Eine, die probegearbeitet hat, sei schlicht zu introvertiert gewesen, sagt Waldherr.

Vielleicht hilft in Zukunft die Ausbildungsvergütung. Angesichts der Not hat die Zahnärztekammer im Oktober beschlossen, die Gehälter zu erhöhen. Seitdem bekommen Azubis erst 900 Euro, 1000 und dann 1100 Euro. Doch selbst davon lebt es sich nur schwer im Landkreis Starnberg, wo ein Großteil davon für die Miete draufgeht. Anjesa Meha, 17, wohnt zuhause. Manchmal jobbe sie nebenher, sagt sie. Auch sie wirbt: "Es ist schön, wenn ein Patient am Ende glücklich aus der Praxis geht", sagt sie. Überzeugt? Sie könne sich das schon vorstellen, sagt Emilia. Aber eigentlich wollte sie erstmal Praktikum in einem Architekturbüro machen. "Das am ehesten", sagt hingegen Tibor. Wieso, weiß er selbst nicht so recht.

Verkürzte Ausbildung, Hochglanz-Bilder: Es ist ein Überbietungswettbewerb um die Schüler

Letzte Station auf dem Schnuppermarathon. Zu Fuß geht es zu "RAM" in Herrsching. Vor dem Eingang macht Emilia ein Selfie. Drinnen piept und rattert es. Das Unternehmen ist Marktführer bei Regelsystemen für den Gartenbereich, ein klassischer Hidden Champion. In keiner Branche gibt es im Landkreis so wenige Arbeitslose wie in den fertigungstechnischen Berufen. Das verarbeitende Gewerbe boomt, doch die Kräfte fehlen. Projektleiter Christian Wimbauer galoppiert mit den Schülern durch die Welt der Messtechnik. Klimacomputer, Temperaturfeuchtefühler, Analogregler Nummer 34111 ("für die Lüftung"). Das Ganze sei "nicht nur für den männlichen Part", wirbt er. Nina lächelt höflich.

Derweil ratschen Nina und Tibor über Fußball, er spielt schließlich seit elf, zwölf Jahren. Irgendwann verlieren sich Nina und Emilia in einem Kicheranfall. Bäcker, Kita, Zahnarzt, und jetzt all diese Messgeräte. Vielleicht war die Tour doch etwas viel für die Hoffnungsträger des Mittelstands. Immerhin scheint es ihnen die Einrichtung des Büros unter dem Dach angetan zu haben. "Schön mit dem Licht und den Pflanzen", sagt Emilia. "Die Pflanzen sind das beste", sagt Nina. Und Tibor? "Ich glaub, Technik ist doch nicht so meins."

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