Süddeutsche Zeitung

Adventszeit:Ganz viel Gans

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Vom Verhaltensforscher über verdreckte Badeplätze bis hin zum Sternekoch - im Raum Starnberg gibt es sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte an die tierische Weihnachtsdelikatesse

Von Astrid Becker

Klar, wenn Weihnachten näher rückt, reden die Menschen wieder über die Gans. Während Eltern ihren Kindern im besten Fall Selma Lagerlöfs Geschichte von der wunderbaren Reise des Nils Holgersson mit den Wildgänsen erzählen,brutzelt das Geflügel meist schon im Ofen vor sich hin. Tatsächlich handelt es sich beim Gänsebraten um ein sehr beliebtes Weihnachts-Festessen der Deutschen. Viele Jahrhunderte, vom siebten bis zum 20., galt die Zeit zwischen Martini, also dem 11. November, und Heiligabend als Fastenzeit, die jeweils von einem königlichem Mahl flankiert wurde: nicht selten mit einer gebratenen Gans. In vielen Regionen des Landes spielt das Wassergeflügel also vor allem in der kalten Jahreszeit eine wichtige Rolle. Im Landkreis Starnberg hingegen hat die Gans praktisch das ganze Jahr Saison, allerdings keineswegs nur aus kulinarischen Gründen. Vielmehr entpuppt sich das Federvieh bisweilen für die Menschen dieser Gegend als regelrechte Plage, obwohl Gänse aus dem Fünfseenland einst weltberühmt geworden sind.

Die Forschungsgans

Vielleicht muss an dieser Stelle erst einmal die Sache mit dem Fünfseenland aufgeklärt werden. Denn dieser Name für die Region im Südwesten Münchens entspricht nicht ganz der Wahrheit. Denn sie birgt in sich - neben Starnberger See, Ammersee, Wörthsee, Pilsensee und Weßlinger See - noch ein Gewässer, dessen Existenz viele immer wieder vergessen. Das mag daran liegen, das es nicht öffentlich zugänglich ist. Die Rede ist vom Eßsee auf dem Gelände des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Seewiesen, das unweit von Andechs angesiedelt ist, aber zur Gemeinde Pöcking gehört. Auf diesem Gewässer betrieb einst der Mediziner, Zoologe und Nobelpreisträger Konrad Lorenz seine Verhaltensforschungen an Graugänsen - und sorgte damit nicht nur in der Welt der Wissenschaft für Aufsehen. Er schwamm mit den Vögeln dort, er kommunizierte mit ihnen, er beobachtete sie, manchmal Tag und Nacht, wie es heißt. Seine wichtigste Erkenntnis aus seinen unzähligen Beobachtungen, beschrieb er selbst so: "Wenn Sie eine junge Gans in Obhut des Menschen aus dem Ei schlüpfen lassen, so dass der Mensch das erste Lebewesen ist, das ihm begegnet, dann fixiert die junge Gans in nicht mehr rückgängig zu machender Weise ihre kindliche Anhänglichkeit an den Menschen, dem sie als erstes begegnet ist, und folgt ihm während ihrer ganzen Jugend so getreu nach, wie sie normalerweise den Eltern nachfolgen würde."

Die wichtigste und bekannteste Lorenz'sche Graugans dürfte "Martina" gewesen sein, 1936 geschlüpft. Mit ihr verband Lorenz eine so tiefe Bindung, das er fortan den größten Teil seines Lebens mit der Gans-Verhaltensforschung bestritt, von 1954 an als Direktor des Max-Planck-Instituts in Seewiesen. Knapp 20 Jahre später, 1973, erhielt er für seine Erkenntnisse zum Aufbau und zur Auflösung individueller und sozialer Verhaltensmuster den Medizin-Nobelpreis - zusammen mit Nikolaas Tinbergen und Karl von Frisch.

Mehr als 70 Jahre später wird dort noch immer Grundlagenforschung an Vögeln mit dem Ziel betrieben, darüber Rückschlüsse auf den Menschen ziehen zu können - etwa auf dessen Schlafverhalten. Und erstmals seit damals wird wieder aktive Gänse-Verhaltensforschung auf dem Eßsee betrieben. Wissenschaftler rund um den Forscher Niels Rattenborg wollen herausfinden, ob ihre Probanden - neun Kanadagänse und eine Graugans - zeitgleich schwimmen und schlafen können. Rattenborg hatte bei einem anderen Projekt in Galapagos festgestellt, dass Fregattvögel im Flug mit einer Gehirnhälfte und einem geschlossenen Auge schlafen und so Zusammenstöße vermeiden.

Rattenborg selbst fungiert in seinem neuen Projekt allerdings nicht als "Gänsevater" wie einst Lorenz. Diese Rolle hat der italienische Biologe Andrea Ferretti übernommen. Und er spricht in einem Film des MDR auch über "Prägung", dem Begriff, der auf Lorenz zurückgeht. Allerdings sieht er diese Prägung eher wechselseitig an: Er vermisse die Tiere, wenn er sie längere Zeit nicht sehe, sagt er dort. Ferretti ist es daher auch, der "seine Gänse" im Frühsommer in die schwimmende, 44 Meter lange Voliere im Eßsee begleitete, in der mittels jeder Menge kleiner Kameras noch weitere zwei Jahre lang das Schlafverhalten der Gänse studiert werden soll. Eine Grundlagenforschung, mit der beispielsweise Schlafstörungen beim Menschen besser verstanden werden sollen. Im Moment pausiert das Projekt, der kalten Jahreszeit wegen. Doch im Frühjahr soll es fortgesetzt und erste Erkenntnisse aus 2021 veröffentlicht werden.

Das Gans-Übel

Unter Schlafstörungen dürften auch viele nach einem Bad im Starnberger See oder Ammersee bisweilen leiden. Der Grund dafür allerdings ist bereits längst erforscht - und dieser hält die Liebe vieler Touristen und Ausflügler zu Wasservögeln arg in Grenzen: Es sind rote, juckende Pusteln, die bis zu zehn Tage lang nicht verheilen. Die Ursache dieses Hautausschlags sind Zerkarien. Genauer gesagt handelt es sich um die vor allem im Flachwasser lebenden Larven dieser winzigen Saugwürmer - und um einen Irrtum ihrerseits. Denn der Mensch ist für sie ein "Fehlwirt": Sie dringen quasi versehentlich in dessen Haut ein, wo sie dann recht schnell absterben. Beim ersten Kontakt mit den Zerkarien wird dieser Hautausschlag meist noch nicht ausgelöst oder nur kaum. Erst bei wiederholtem Baden bilden sich die unangenehmen Quaddeln. Zerkarien treten meist im Strandbereich auf - dort also, wo es auch genügend Wasservögel und Wasserschnecken gibt: Enten und Gänse scheiden als Endwirt mit dem Kot die Eier der Erreger aus, die Wasserschnecken fungieren im Lebenszyklus der Saugwürmer als Zwischenwirt für die Larven. Wassertemperaturen von mehr als 24 Grad Celsius begünstigen die Entwicklung und das Überleben der Zerkarien.

Herrschings Bürgermeister Christian Schiller kann ein Lied davon singen: Kaum beginnt die Badesaison, steht bei ihm das Telefon nicht still und sein E-Mail-Postfach quillt über mit Beschwerden von Bürgern über die vielen Gänse in seiner Gemeinde, die alle als Nachfahren der Lorenz'schen Gänse angesehen werden. Ganz kann das nicht stimmen: Denn mittlerweile werden auch am Ammersee immer mehr Kanadagänse gesichtet. Konrad Lorenz erforschte allerdings das Verhalten von Graugänsen, die hierzulande beheimatet sind. Die Gemeinde Herrsching hat sich dennoch in den vergangenen Jahren mehrfach um eine Lösung des Gans- und Entenproblems bemüht. Bislang vergeblich: Sämtliche Ideen, Gans und Co. zu bejagen oder mit Greifvögeln zu vergrämen, scheiterten am Veto der Naturschutzbehörden.

Die Ausgleichs-Gans

Vor gut 25 Jahren hätte es sich Bernd Holzinger vom Bernhardhof in Andechs wahrscheinlich kaum vorstellen können, dass es auch noch etwas anderes als seine IT-Firma geben könnte. Doch irgendwann, so erzählt er es, sei sein Drang nach einem Ausgleich zu seiner stressigen Arbeitswelt immer größer geworden. Eines Tages, "vor 15 oder 20 Jahren", begann er mit der Geflügelzucht, erst mit Hühnern, dann kamen Enten und Gänse dazu. Mittlerweile hat er seine Firma verkauft und den einstigen Bauernhof seiner Familie in ein Restaurant mit Gästezimmern verwandelt - und bietet dort in der Zeit zwischen Kirchweih und Weihnachten eigenes Geflügel zum Verzehr an. Bis dahin führen seine Tiere ein schönes Leben - wenn da nicht die Rabenkrähen wären, die Jagd auf die Tiere machen, so lange sie noch klein sind. Wie seinen Augapfel hütet er daher die jeweils etwa 150 Gänse- und Entenküken, die er sich im Sommer holt, füttert und jeden Morgen auf ihr eingezäuntes Freilandgehege lässt und abends wieder zurück in ihren Stall bringt. "Es sind scheue Tiere. Ich lasse sie auch so leben, wie sie es wollen", sagt er. "Nur einmal dann halt nicht mehr." Das sind die drei Schlachtermine im Jahr, eben zu Kirchweih, Martini und kurz vor Weihnachten. "Ich wäre aber ganz ehrlich froh, wenn mein Leben so enden würde wie ihres." Die Tiere werden erst mit Strom betäubt, dann geschlachtet - ohne Transport. Auf dem eigenen Hof, legitimiert durch das Veterinäramt. Seine Gäste müssen vorbestellen, dann wird das Geflügel zubereitet und am Tisch tranchiert, pro Gast kostet eine Portion 28,50 Euro. Für diejenigen, die den Braten lieber zu Hause verzehren, bietet er sie auch vorgegart an: "20 bis 30 Minuten müssen sie dann noch in den Ofen, dazu gibt es Blaukraut und Soße." Nur die Knödel, die müssen die Abnehmer noch selbst zubereiten. "Nachdem wir alles selbst kochen, würden sie uns braun werden, dafür haben wir noch keine Lösung gefunden, die zu uns passen würde."

Die Sterne-Gans

"Gans to go" gibt es auch seit 2020 im Starnberger Gourmetrestaurant "Aubergine". Damals, so erzählt Sternekoch Maximilian Moser, sei das mehr oder weniger aus der Not geboren worden: "Wir hatten wegen der Pandemie zu, es war ja Lockdown." Um Gäste dennoch mit den weihnachtlichen Kreationen seines Teams verwöhnen zu können, sattelte Moser auf Gans zum Abholen um: "Wir hatten das früher schon wieder mal für unsere Stammgäste gemacht, aber nicht in diesem Rahmen." Die Idee kam an: 120 Bestellungen oder mehr waren es im vergangenen Jahr, ganz genau kann Moser das gar nicht mehr sagen. So viele werden es in diesem Jahr nicht werden: "Wir müssen ja auch noch für unsere Restaurants kochen, da haben wir gar nicht parallel so viele Kapazitäten frei." Dennoch: Bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag gilt dieses Angebot noch. Eine Portion mit jeweils einen Stück aus der Brust und einem aus Keule in Orangenjus mit jeweils zwei Knödeln und Blaukraut schlägt mit 36 Euro zu Buche. Auf Wunsch wird die Gans entweder vorgegart und muss dann noch einige Zeit daheim in den Ofen, oder komplett fertig gebraten und zerlegt. Dann landen die Portionen in einer Wärmebox und können vom Besteller direkt auf den Tisch gebracht werden.

Bei den Menschen in der Region stehen Gänse also hoch im Kurs. Zumindest um diese Jahreszeit. In der Badesaison wird sich das wohl wieder schlagartig ändern.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2021
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