Süddeutsche Zeitung

Typisch deutsch:Der Ring der Herren

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Welcher Schmuck ist bei Männern angemessen? Jeder, findet unsere Autorin. Doch es gibt auch andere Meinungen.

Kolumne von Lillian Ikulumet, München

Ich neige dazu, möglichst viele Körperteile mit Schmuck zu behängen. Zu meinem Repertoire gehören unzählige Ketten, Armreifen, Ohrringe, Broschen, Haarnadeln, Ringe. Es wird nicht weniger sondern mehr. Und das ist auch gut so.

In den letzten Jahren ist mir aufgefallen, dass die traditionellen Grenzen zwischen männlicher und weiblicher Mode immer mehr verschwimmen. Zu dieser Feststellung muss kommen, wer sich innerhalb Münchens durch die Straßen bewegt und den Menschen dabei zusieht, wie sie ihrerseits Dinge mit sich herumtragen. Es kommt offenbar wieder mehr in Mode, dass Männer sich schmücken - vorzugsweise mit Ohrringen. Einst als Domäne der Frauen betrachtet, ist Schmuck im Jahr 2022 ein gutes Beispiel für Cross-Dressing. Dabei handelt es sich keinesfalls um Salatsoße.

Ich sehe nicht nur jüngere Münchner, auch jene, wo sich zunehmend das Grau im Haar durchsetzt, neigen vermehrt zu Ohrsteckern- oder ringen. Es gab Zeiten, da wurde ein einziger Männerohrring auf der rechten Seite als Zeichen für Homosexualität interpretiert. Offiziell war das aber noch nie zweifelsfrei gültig. Und vielleicht war es auch überhaupt nie wichtig.

Seit ich vermehrt darauf achte, bin ich nur so von Männer-Ohrringen umringt. Sie hängen links, sie hängen rechts und manchmal hängen sie auf beiden Seiten.

Vielleicht fällt es mir auch so auf, weil junge Männer afrikanischer Herkunft lieber nicht von ihren Eltern gesehen werden wollen, wenn sie Ohrringe tragen. Es heißt dann schnell: Aha, schwul. In Uganda, wo ich herkomme, ist Homosexualität gesetzlich strafbar. Das Tragen von Ohrringen als Mann ist in den meisten afrikanischen Kulturen immer noch ein Tabu, außer etwa bei den Massai, die sie aufgrund ihres kulturellen Glaubens tragen.

In letzter Zeit bin ich vielen afrikanischen Männern begegnet, die tatsächlich Ohrringe tragen. Homosexuelle und Heteros gleichermaßen. Ein Freund hat mir neulich erzählt. dass er seine Ohrringe schon länger trage und nur ablege, wenn er sich zuhause in Afrika blicken lässt. Einmal hat er im Flieger vergessen, die Ohrringe abzunehmen. Als seine Mutter ihn so am Flughafen erblickte, sank sie auf den Boden und fing an zu weinen, als wäre jemand gestorben. Sie behauptete, Europa habe ihrem Sohn beigebracht, Frauensachen zu tragen. Erst als er den Schmuck abnahm und vor ihren Augen entsorgte, konnte er sie beruhigen.

Es ist sehr selten, dass Ärzte, Anwälte, Geschäftsleute und Personen in hohen Positionen Ohrringe tragen. Sie tragen sie vielleicht außerhalb der Arbeit, aber selten in Kombination mit ihrer Berufskleidung. Dennoch scheint die Münchner Lebenswelt so manches zu entmystifizieren, was wir über Mode und Geschlechterrollen wissen. Soll jeder Mann und jede Frau tragen, so viel und was er oder sie möchte. Für mich hat die neuere Entwicklung zur Folge, dass ich mir noch mehr Ringe, Broschen und Ketten zulegen muss. Wenn die Männer jetzt gegen uns Frauen anblinken wollen, muss ich mich im Gegenzug noch mehr aufbrezeln. Bling. Bling.

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