Süddeutsche Zeitung

Porträt:Abschied der Kreativpapas

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Das Hip-Hop-Musical "Westendopera" war vor mehr als zwei Jahrzehnten der Startschuss für das Imal-Musiktheater. Vridolin Enxing und Dick Städtler geben hier benachteiligten, aber begabten Jugendlichen die Förderung, die sie im Bildungsbürgertum von ihren Eltern erhalten hätten.

Von Barbara Hordych, München

Nicht ohne Grund kämen die innovativen Musikformen von der Straße, "an den Musikhochschulen wurden die nicht erfunden", sagt Vridolin Enxing, der Gründer und musikalische Leiter von International Munich Art Lab (Imal). "Wer keine Gesangsausbildung bekommen hat, der rappt, wer kein Schlagzeug bekam, der fängt an zu beatboxen". Jetzt blickt er gemeinsam mit seinem Mitstreiter Dick Städtler im Büro der riesigen Imal-Halle, auf der Rückseite des neuen HP8 auf dem ehemaligen Werkshof der Stadtwerke gelegen, zurück auf mehrere Jahrzehnte künstlerischer Entwicklungsarbeit mit benachteiligten, aber begabten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Bevor sie Ende dieses Jahres die Führung ihres Deutschlandweit einzigartigen Projekts an vier Nachfolger aus ihren eigenen Reihen übergeben.

Alles begann in den Neunzigerjahren mit Musik-Workshops, die der mittlerweile 71-Jährige Enxing - sein Markenzeichen sind bis heute Motorrad und schwarze Lederhose - im Auftrag des Kreisjugendring München veranstaltete. In Jugendfreizeitstätten, für talentierte Jugendliche aus sozial schwachen Stadtvierteln. "Und da wurde mir klar, welche kreativen Ressourcen in diesen sogenannten Problemvierteln existieren, aber nicht entdeckt und nicht gehoben werden", sagt Enxing. 1995 beschloss er, diese jungen Leute gezielt zu fördern mit einem Projekt, für das er sich finanzielle Unterstützung der Stadt München holte. Und tatkräftige Hilfe von ehemaligen Kollegen, mit denen er in den Siebzigerjahren bei der Kölner Polit-Combo Floh de Cologne rockte. Neben Städtler war das noch der 2017 verstorbene Theo König.

Den "Startschuss" gab das Hip-Hop-Musical "Westendopera". "Vitti macht Casting!", heftete er auf Zetteln an die Bäume. Es meldeten sich 180 Interessenten, 53 nahm er auf. "Hip-Hop in einer Zeit, in der viele Eltern nicht wussten, warum ihre Kinder die Mützen verkehrt herum aufsetzten, und die Hosen den Jungs so weit unten saßen", erinnert sich Enxing und schmunzelt. Nach zwei Jahren harter Probenarbeit hatte das Musical 1999 im Chapeau-Claque-Zelt auf dem Tollwood Premiere, mit 26 Jugendlichen aus zwölf Nationen. "Zwanzig Minuten lang stand das Publikum, schrie vor Begeisterung und applaudierte. So endete die Krönung eines deutschlandweit einmaligen Projektes: die überragend gute Uraufführung der ,HipHopera' oder ,Westendopera'", schwärmte seinerzeit der SZ-Kritiker. Die meisten der Darsteller hätten den ganzen Horror von Drogen, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Missbrauch und Zerrissenheit erlebt, führte er aus. "Das Beste aber ist, dass das Ensemble keinen Randgruppen-Bonus von politisch korrekt sein wollenden Kritikern braucht. Dem Können des Ensembles, nicht nur der guten sozialen Tat gelten am Ende die standing ovations".

Die Produktion ging auf Tour, kam in den nächsten zwei Jahren auf 250 Auftritte in Berlin, in Österreich und Italien, gastierte sogar in New York. Einer der damaligen Teilnehmer arrangierte später Lou Begas Hit "Mambo Number 5", der weltweit Chart-Erfolge feierte. Auch Antje Traue, als Bösewichtin Supermanns Feindin im Hollywoodfilm "Man of Steel", begann ihre Karriere als 16-Jährige in der Talentschmiede des International Munich Art Lab. "Erst war sie Halbwaise, zwei Jahre später wurde sie zur Vollwaise - aber sie blieb dabei", sagt Enxing, den viele bei Imal "Papa Vitti" nennen.

Bei der Derniere in der Reithalle 2002 war dann auch Oberbürgermeister Christian Ude, und im Anschluss riet Julian Nida-Rümelin, der spätere Kulturstaatsminister, Enxing: "Schreib das mal als Konzept auf, was du hier machst, dann können wir das fördern!". So kam es zur Gründung von "Imal", einem Projekt zur ästhetischen Jugendarbeit, gefördert vom Arbeitsamt und mehreren Referaten der Stadt München. Mit einem Regelwerk, das bis heute gilt: Zwei Jahre lang erhalten die Jugendlichen im "Imal" kostenlosen künstlerischen Unterricht - in Schauspiel, Gesang, Musik, Bühnenbild und -technik. Ihre Kenntnisse setzen sie zur Gestaltung eines Bühnenwerks ein, bei dem sie alles selbst erarbeiten: Thema, Text, Musik, Bühne, Kostüme und Technik. Die jüngste Produktion entstand unter erschwerten Corona-Bedingungen und belastet vom Lärm der Presslufthammer nebenan. Von den Bauarbeiten inspiriert hieß sie "Was macht eigentlich dieses Teil hier?" - "auch das ist ein Weg der kreativen Verarbeitung", sagt Enxing.

Der Weg zur Bühne führt in der riesigen Halle, in der sich früher die Schreinerei befand, vorbei am Aufenthaltsraum, in dessen Mitte ein großer Tisch steht. "Wir leisten auch ganz praktische Lebenshilfe", sagt Enxing. Zu der gehöre etwa, dass das Ensemble jeden Tag einkaufe, koche und aufräume. Wer sich allein von Fast Food ernähre, könne schon allein die neun Tanz-und Sportstunden in der Woche nicht bewältigen.

So unterschiedlich die jungen Menschen im Alter von 16 bis 26 Jahren auch in puncto Herkunft, Nationalität und Schulbildung sein mögen, sind sie sich in einem Punkt ähnlich: Alle sind beseelt vom Wunsch, sich künstlerisch auszudrücken, auch wenn der Arbeitsmarkt viel mehr nach Erzieherinnen und Altenpflegern verlangt. Vom Arbeitsamt, von der Berufsberatung, vom Jobcenter Arge, von den Sozialbürgerhäusern bekommen sie den Tipp, sich wegen ihres Lebenstraums an Enxing und "Imal" zu wenden. "Unser großes Plus ist es, dass wir als berufsvorbereitende Maßnahme anerkannt sind; wer bei uns aufgenommen ist, bekommt weiter sein Kindergeld und kann in der Familienversicherung bleiben". Dennoch sei für manche Eltern, beispielsweise aus dem muslimischen Kulturkreis, die Vorstellung, ihre Tochter werde Sängerin, fast so, "als würde sie im Hotel auf den Strich gehen", glaubt Enxing. Also keine Chance? "Doch", meint er, "wenn das Mädchen es schafft, Mama oder Papa hierher zu bekommen, dann kriege ich sie".

Entscheidend für die Aufnahme ist das Talent - gekoppelt an die charakterliche Begabung, die gebotene Chance zwei Jahre zu nutzen

"Im Grunde genommen mache ich nichts anderes, als den Jugendlichen die Förderung zu geben, die sie im Bildungsbürgertum von ihren Eltern erhalten hätten", sagt Enxing, der sich selbst als "klassisch erzogener Cellist" bezeichnet, an der Kölner Musikhochschule studierte, aber auch eine Ausbildung als Motorradmechaniker durchlief. Ausschlaggebend bei den als Auswahlkriterium veranstalteten "Auditions" seien nicht die schulische Vorbildung oder der Grad der Benachteiligung, sondern das Talent. Gekoppelt an die charakterliche Begabung, die gebotene Chance über zwei Jahre hinweg mit Disziplin zu nutzen. Zuvor gilt es aber, noch eine ganz besondere Hürde zu nehmen. "Vitti ist für seine Abschreckungsgespräche gefürchtet" wirft sein Mitstreiter Dick Städtler liebevoll spöttelnd ein. Warum berüchtigt?

"Ich muss ja feststellen, wie ernst es den Bewerbern mit ihrem Berufswunsch ist", sagt Enxing. Schließlich müsse ein anspruchsvolles Ausbildungspensum bewältigt werden - und wenn die Produktion später auf Tournee gehe, "dann darf nicht einer die Vorstellung schmeißen, weil seine Freundin ihn verlassen hat oder er am Abend vorher zu viel getrunken hat". Wer sich als Musiker nicht freue, an Silvester zwei Engagements zu haben, tauge eben nicht zum Künstler. Etwa die Hälfte der Interessenten melde sich nach diesem Gespräch nie wieder. "Diejenigen, die danach zur Audition wiederkommen, haben zu 90 Prozent einen Platz", so Enxing. Von 60 bis 80 Bewerbungen nehme er in der Regel 20 bis 30 Teilnehmende auf. Von diesen stehen dann nach zwei Jahren 18 bis 20 bei der Premiere auf der Bühne. Was ist mit den anderen passiert?

"Da gibt es zum einen die, die im ersten Jahr parallel landauf, landab bei Schauspielschulen vorsprechen - wenn die dann genommen werden, sind sie weg." Und dann gebe es die, die auf Intervention ihrer Eltern aufgeben, die ihrem Nachwuchs nahe legen, "etwas Vernünftiges" zu lernen. Noch immer schmerzt Enxing die Erinnerung an eine sehr talentierte junge Sängerin und Klavierspielerin. "Eine fantastische Stimme", schwärmt der Vocal-Coach Städtler. Doch ihre Mutter bestand darauf, dass sie bei Imal aufhörte, stattdessen eine Friseurlehre anfing. "Jetzt möchte sie Maskenbildnerin werden", weiß Städtler. Kontakt besteht noch zu vielen Ehemaligen. So kommen auch die vier Nachfolger der Imal-Masterminds aus der eigenen Talentschmiede. Lediglich als Berater wollen die beiden ihnen in den kommenden zwei Jahren noch zur Seite stehen.

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