Süddeutsche Zeitung

Gewalt gegen Kinder:"Alles muss ans Tageslicht"

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Erstmals trifft sich die Münchner Missbrauchs-Kommission - sie soll untersuchen, welchen Kindern unter Obhut der Stadt Gewalt angetan wurde. Die Chefin des Jugendamts will die Vorwürfe "bis ins Letzte durchleuchten".

Von Bernd Kastner und Rainer Stadler

Welchen Kindern wurde Gewalt angetan? In welchen Heimen, in welchen Familien? Wer waren die Täterinnen und Täter? So vielfältig die Fragezeichen, so groß die Aufgabe für die vom Stadtrat eingesetzte Expertenkommission und für Esther Maffei, die Chefin des Jugendamtes. An diesem Freitag trifft sich die Kommission nun zum ersten Mal auf der Suche nach Antworten.

Es soll aufgearbeitet werden, was Mädchen und Jungen an Unrecht widerfahren ist, die von 1945 bis 1999 in der Obhut des Jugendamts waren und in städtischen Heimen, in Häusern anderer Träger, in Pflege- und Adoptivfamilien lebten. Dafür muss Maffeis Behörde auf den Kopf gestellt werden. Es gilt, das Agieren des Amts und der damit kooperierenden Einrichtungen zu untersuchen.

Bisher hat sich Maffei nicht öffentlich zur Aufarbeitung von Missbrauch geäußert; die Initiative dafür kam von Grün-Rot im Stadtrat. Im Gespräch mit der SZ in ihrem Büro beim Hauptbahnhof versichert sie, dass sie sich schon auf ihrer früheren Stelle in Südtirol mit dem Thema Missbrauch beschäftigt und sich intensiv in die Vorbereitung der Kommissionsarbeit eingebracht habe.

Die Beschlussvorlage stammt aus ihrem Haus. Sie selbst werde der Kommission auch angehören, als Vertreterin des Sozialreferats, aber ohne Stimmrecht. Leiten soll das Gremium mit seinen 14 Mitgliedern der ehemalige Kripo-Beamte Ignaz Raab, Fachmann für die Aufklärung von Sexualstraftaten.

"Alles muss ans Tageslicht", sagt Maffei - und meint damit auch den ungeheuerlichen Verdacht, den Mitglieder einer privaten Recherchegruppe, der auch ehemalige Heimkinder angehören, äußern: Dass es ein Netzwerk aus Tätern, Täterinnen und Mitwissenden gegeben haben könnte, die in den 60er- und 70er-Jahren rund um das damalige Heim des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Feldafing Kinder weiterreichten, um sie zu missbrauchen.

"Dem muss auf den Grund gegangen werden", sagt Maffei. Überhaupt müsse man "bis ins Letzte durchleuchten", wie die Stadt München früher agiert habe: "Was haben wir versäumt?" Sie kenne niemanden in ihrem Amt, der oder die da zaudere.

Thematisch solle sich die Kommission zunächst auf sexuellen Missbrauch fokussieren, sagt Maffei und erklärt dies mit dem Netzwerk-Verdacht. Sie wolle aber keinesfalls bestimmte Formen von Gewalt ausgespart wissen, auch nicht psychische Gewalt etwa in Form der emotionalen Kälte, in der Kinder aufwachsen mussten.

"Es ist immer Gewalt", sagt Maffei. Sie plädiert dafür, dass die Kommission flexibel agiere, je nach Stand der Erkenntnisse. "Wir müssen offen bleiben für alles, was kommt." Das gelte auch für den Zeitraum: Wenn es Erkenntnisse gebe zu Gewalttaten vor 1945 oder nach 1999, dann werde man diese auch berücksichtigen.

Im Mittelpunkt der Aufarbeitung sollen nach dem Willen des Stadtrats die Betroffenen von Missbrauch stehen. Warum aber sind dann ausgerechnet die beiden Plätze in der Kommission, die für Betroffene reserviert sind, noch nicht besetzt? Die bereits berufenen Mitglieder des Gremiums sollen die beiden Betroffenen später auswählen.

Maffei begründet dies mit möglichst großer Unabhängigkeit der Kommission. Die Stadt wolle jeden Anschein vermeiden, Betroffene nach eigenen Wünschen auszuwählen. Es könnte der Vorwurf kommen, die Stadt suche jene aus, mit denen sie sich gut verstehe. Deshalb müsse man in Kauf nehmen, dass die beiden Betroffenen erst später zur Kommission hinzukommen.

"Es darf uns auf keinen Fall passieren, dass wir weitere Verletzungen produzieren"

Schwierig werde es, sagt Maffei, die Akten über die Menschen auszuwerten, für die einst das Jugendamt verantwortlich war. Man kennt nicht mal ihre genaue Zahl, weiß nur, dass es "viele Tausend Kinder" seien. Ehe man deren Unterlagen externen Wissenschaftlern zur Analyse überlasse, brauche man das Einverständnis der Betroffenen, dafür müsse man sie nach Jahrzehnten erst mal ausfindig machen. Das sei aufwändig.

Und was ist, wenn die Betroffenen nicht zu finden oder bereits tot sind? Das gelte es juristisch zu klären, sagt Maffei. Die Aufgabe der Aktenauswertung sei jedenfalls riesig. "Wir wollen das so gut und schnell wie möglich hinkriegen."

Das Münchner Jugendamt steht im Zentrum der Aufarbeitung, relevant sind aber unzählige weitere Akteure der Jugendhilfe, in deren Einrichtungen Münchner Kinder geschickt wurden. Manche dieser Häuser haben eigene Aufarbeitungsprozesse gestartet, etwa der Landesverband des Paritätischen. "Wir müssen uns auf jeden Fall vernetzen", sagt Maffei. Es gelte, Puzzlestücke zusammenzusetzen.

Als allererstes aber, so der Auftrag des Stadtrats, soll sich die Kommission um die Frage der finanziellen Entschädigung kümmern. In einem halben Jahr soll sie einen ersten Vorschlag vorlegen. Dabei wolle man berücksichtigen, sagt Maffei, dass Missbrauch in der Kindheit enorme negative Auswirkungen auf das ganze Leben eines Menschen haben könne.

Bisher haben Betroffene aus dem längst geschlossenen bundesweiten Fonds bis zu 10 000 Euro erhalten, meist als Sachleistungen. Das empfanden manche Betroffene als demütigend, weil der Staat ihnen nicht Geld zur freien Verfügung überwies.

Maffei ist überrascht, als sie von dieser früheren Praxis erfährt, und will daraus lernen: "Es darf uns auf keinen Fall passieren", sagt sie, "dass wir weitere Verletzungen produzieren."

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