Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender für Bedürftige:Die Seele ansprechen

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In einem bayernweit einzigartigen Modellprojekt begleitet die Nachbarschaftshilfe Taufkirchen seit 2014 türkische Migranten,die unter Depressionen leiden - in ihrer Muttersprache. Das Angebot wird vom SZ-Adventskalender unterstützt.

Von Gudrun Passarge, Taufkirchen

Filiz B. hatte sich völlig zurückgezogen. "Ich war so allein, wollte nicht mehr weggehen, nicht ins Café, nicht ins Kino." Das ist Vergangenheit. Sie hat Hilfe bei der Nachbarschaftshilfe Taufkirchen gefunden, die 2014 ein Modellprojekt auf die Beine gestellt hat, um Menschen mit Depression zu beraten, sie zu informieren und ihnen erste Handlungswege aufzuzeigen. Und zwar in ihrer Muttersprache Türkisch.

Michael Mrva, stellvertretender Vorsitzender der Nachbarschaftshilfe, erinnert sich noch gut an die Anfänge. Die Nachbarschaftshilfe wollte speziell der großen türkischen Gemeinde im Ort etwas anbieten und veranstaltete einen Vortrag mit einer türkischen Gerontologin. Aber das Publikum hatte andere Interessen. "Es gab die Rückmeldung, Depression wäre wichtiger", erzählt Mrva.

Die Betroffenen lernen, die Kontrolle über ihre Gedanken zu erlangen

Also wurde die Psychotherapeutin Seher Asar aus Unterhaching eingeladen, und ihr Vortrag mündete in das Projekt, das Mrva als einzigartig in Bayern beschreibt. Asar hat die Psychoedukation übernommen, vier Abende, an denen Menschen mit Depression viel lernen. Über Depression, über sich, ihre Reaktionen, ihre Wünsche und Ängste.

Wie können sie mit Stimmungsschwankungen umgehen, wie die Kontrolle über ihre Gedanken erlangen, welche Tätigkeiten tun ihnen gut, wie hilft es, den Alltag zu strukturieren. "Sprache spielt dabei eine große Rolle", sagt Asar. Filiz B. bestätigt das: "Ich muss es innen spüren, was Frau Asar sagt."

Die Psychotherapeutin betont, es sei von Vorteil, Kultur und Sprache der Migranten zu kennen und zu können. Für sie sei es beispielsweise gut zu wissen, dass manche türkische Migranten glauben, ihre Depression sei schicksalsgegeben. "Aber wir vermitteln, trotzdem kannst du etwas dagegen tun." Doch um die Menschen zu erreichen, müsse sie erst eine Vertrauensbasis aufbauen, was ihr dank der Sprache leichter gelinge. Sie weiß auch, wie bei vielen der Alltag funktioniert. Haushalt, Kinder, berufliche Probleme, "all dieses Wissen schafft enorm viel Vertrauen und Öffnung".

Vor allem Frauen besuchen die Kurse

Mehrheitlich besuchen Frauen die Psychoedukation, die ergänzt wird von Gesprächsabenden, geleitet von der Psychologin Tezay Sokul. Die Themen suchen sich die Betroffenen selbst aus. Seher Asar sieht das Projekt als Erfolg an. "Es haben sich zwei Institutionen gefunden, die perfekt harmonieren."

Gemeint sind das Münchner Bündnis gegen Depressionen, bei dem Asar Mitglied ist, und die Taufkirchner Nachbarschaftshilfe. Deren Geschäftsführerin, Andrea Schatz, nickt. "Wir hätten das Fachwissen nicht, die hat das Bündnis. Aber wir wissen, wie man auf Menschen zugeht und wie man Projekte aufbaut und nachhaltig absichert." Obwohl es harte Arbeit ist, die Finanzierung sicherzustellen, wie sie sagt.

Deswegen war die Nachbarschaftshilfe froh, dass außer Geld vom Landkreis und der Regierung von Oberbayern auch der SZ-Adventskalender mit einem Zuschuss geholfen hat. Er wurde verwendet, um 3000 Flyer auf Türkisch und Deutsch zu drucken. Sie sollen das Projekt bekannter machen und wurden gerade überall im Landkreis München und in der Stadt verteilt, bei Institutionen, die mit Migranten arbeiten.

Es ist auch mal erlaubt, etwas für sich selbst zu tun

Das Projekt, das gedacht ist, die lange Wartezeit bei türkischen Psychotherapeuten von bis zu zwölf Monaten zu überbrücken und Menschen Möglichkeiten an die Hand zu geben, mit ihrer Krankheit besser umzugehen, kommt bei den Betroffenen gut an. Cigdem D. arbeitet selbst bei der Nachbarschaftshilfe und hilft auch bei der Psychoedukation. Sie berichtet von vielen Frauen mit Problemen, denen sie schon einen Besuch des Projekts empfohlen habe.

Für sie selbst war die Erkenntnis besonders wichtig, dass man auch mal Nein sagen kann und dass es erlaubt ist, etwas für sich selbst zu tun. "Wir leben nur für den Mann, die Kinder und den Beruf. Als Einzelperson bist du nicht da." Inzwischen lässt sie den Haushalt schon mal liegen, um mit einer Freundin Kaffee trinken zu gehen. "Das Projekt ist eine wirklich gute Sache." Und Filiz D. ergänzt, sie habe das Gefühl, ihr Leben wieder in der Hand zu haben. "Ich kann mich auch wieder mit Freunden treffen."

Seher Asar kennt solche Äußerungen. Sie hat in der Zwischenzeit schon viele türkische Migranten betreut in der Psychoedukation. Das Projekt ist dabei über Taufkirchen hinausgewachsen, ja selbst die Landkreisgrenzen sind gesprengt. Da die Nachfrage auch aus München sehr groß war, finden die Blockabende mittlerweile in Neuperlach statt. Wenn es nach der Psychotherapeutin ginge, würden noch weitere Projekte folgen.

Auch aus München ist die Nachfrage groß

Sie wünschte sich noch ein Telefon, das Betroffenen, Lehrern und Eltern im Notfall auch auf Türkisch weiterhelfen könnte. Zum Beispiel, wenn die Mutter anruft und sagt, sie habe ein Kind, das Selbstmordgedanken hat. Dann möchte sie wissen, wo sie sich hinwenden kann. Und sie möchte das Gefühl haben, verstanden zu werden. "Migranten sind verunsichert und haben Sehnsucht nach Institutionen, in denen sie spezifisch aufgefangen werden", sagt Asar. In Taufkirchen haben sie den ersten Schritt dazu gemacht.

Die nächste Psychoedukation in türkischer Sprache findet am 14., 21., 28. April und am 12. Mai 2016 an der Charles-de-Gaulle-Straße 4 in Neuperlach in den Räumen des Paritätischen Wohlfahrtverbands statt. Informationen gibt es auf der Webseite: www.nachbarschaftshilfe-taufkirchen.de

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Quelle:
SZ vom 12.03.2016
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