Süddeutsche Zeitung

Ehrenamtliches Engagement:Ein Leben lang offen für Behinderte

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Frauke Schwaiblmair hat sich schon vor 40 Jahren für die Inklusion von Behinderten eingesetzt, als es das Wort noch gar nicht gab. Jetzt erhielt sie dafür das Ehrenzeichen des Ministerpräsidenten.

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Die Anstecknadel schaut aus wie eine Blume. Weiß-blaue Bayernrauten in der Mitte, weiße Blütenblätter drumherum, das ganze ruht - so sieht es aus - auf einem Lorbeerkranz. Die Blume als Dank kann sich Frauke Schwaiblmair aus Gräfelfing jetzt ans Revers stecken, für mehr als 40 Jahre ehrenamtliches Engagement in der Offenen Behindertenarbeit hat sie das Ehrenzeichen des Ministerpräsidenten erhalten. Sie freut sich darüber: Eine "Dankeschön-Kultur" sei wichtig, sagt sie, so werde die Arbeit dahinter wahrgenommen. Die Arbeit dahinter, das heißt bei Frauke Schwaiblmair, Menschen mit Behinderung mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, sie zu integrieren und nicht auszugrenzen. Dafür brennt sie.

Sich für andere einsetzen, denen eine Stimme geben, die sonst wenig Gehör finden, ist Frauke Schwaiblmairs Mission. Dass solches Engagement erst richtig effektiv ist, wenn man Kommunalpolitik und Ehrenamt verknüpft, hätte sie gerne früher gewusst, sagt sie rückblickend. "Das hat eine Kraft, man kann gestalten, das begeistert mich." Schwaiblmair war schon fast 30 Jahre lang ehrenamtlich aktiv, als sie 2005 in den Gräfelfinger Gemeinderat nachrückte, als Parteifreie für die Grünen/Unabhängige Liste. Sie war 17 Jahre lang Gemeinderätin, bis sie ihr Amt in diesem Sommer niederlegte. Im Jahr 2014 wurde sie obendrein in den Kreistag gewählt und arbeitete dort bis 2020 mit. Seit 2018 ist sie Bezirksrätin und in dieser Rolle auch Inklusionsbeauftragte des Bezirks Oberbayern. Im Landkreis München war sie seit 2011 im Behindertenbeirat aktiv, zuletzt als Vorsitzende, bis sie auch diese Tätigkeit im Sommer aufgab - es wurde ihr einfach alles zu viel.

In welchem Gremium sie auch immer sitzt, sie argumentiert mit Ausdauer für die Belange der Menschen mit Behinderung. Da kann sie Feuer entfachen, etwa für barrierefreie Bushaltestellen oder die Frage, ob Gehwege breit genug für Rollatoren sind. Mancher Gremiumskollege verdreht da schon mal die Augen - "die Frauke wieder" - aber das ist ihr egal. "Wir bringen Themen nur voran, wenn wir sie immer wieder in Erinnerung bringen", sagt sie. Und solange sie nicht umgesetzt sind, wird sie sich zu Wort melden. Sie versteht sich als "Sprachrohr für Menschen, die keine Lobby haben". Gerade erst ist es ihr gelungen, dass im Herbst bei der alljährlichen Sportlerehrung der Gemeinde Gräfelfing auch die Teilnehmer der diesjährigen Special Olympics geehrt wurden. Eigentlich würden sie erst ein Jahr später, rückwirkend, ausgezeichnet werden, "aber für einen Menschen mit Intelligenzminderung ist das eine zu lange Zeit", findet Schwaiblmair. Sie brauchen die Anerkennung unmittelbar.

Mit 13 Jahren nahm sie die ältere Schwester mit

Frauke Schwaiblmair - im Januar wird sie 60 - gehört vielleicht zu den wenigen im Landkreis, die Menschen mit einer geistigen Behinderung ganz selbstverständlich zu ihren Freunden zählen. Seitdem sie 13 Jahre alt ist, engagiert sie sich ehrenamtlich für sie. Die acht Jahre ältere Schwester war damals in der Jugendarbeit der evangelischen Kirche im Münchner Norden aktiv. Der dortige Diakon gründete die "Offene Behindertenarbeit - evangelisch in der Region München" (OBA). Die Schwester wurde Jugendleiterin und Frauke ging mit. Die OBA organisierte Freizeitveranstaltungen für Menschen mit Behinderung, vor allem für jene mit geistiger und Mehrfachbehinderungen. Immer sah das Konzept vor, Menschen mit und ohne Einschränkung dabei zusammenzubringen, schon lange bevor es das Wort Inklusion gab. Unter dem Dach der OBA gründete sie 1979 mit gerade mal 16 Jahren den Mittwochsklub, in dem gesungen, gebastelt und gekegelt wurde, es entstanden Freundschaften. "Manche halten schon seit über 40 Jahren", man ist zusammen alt geworden in der OBA. Ehrenamt, Privatleben und Beruf sind längst nicht mehr zu trennen. Ihren Ehemann hat sie in der OBA kennengelernt, auch er war dort ehrenamtlich aktiv. Ebenso ist ihre Berufswahl wohl vom Ehrenamt inspiriert, wie sie selbst sagt. Frauke Schwaiblmair hat eine Praxis für Musiktherapie und Psychotherapie, Schwerpunkt: Menschen mit geistiger Behinderung.

Für Frauke Schwaiblmair ist es nach eigener Aussage "eine Fügung, dass ich da reingerutscht bin und dass ich lernen durfte". Sie gibt viel, aber vor allem bekommt sie viel zurück, etwa Freundschaften mit viel Nähe und großen Emotionen. Menschen mit einer Intelligenzminderung seien einfach "unverstellt". Sie habe gelernt, den Intellekt nicht zu überschätzen. Entscheidungen werden auch auf anderen Ebenen getroffen, aus einem Bauchgefühl heraus zum Beispiel, "das hat auch seine Wertigkeit". Dass es normal ist, verschieden zu sein, habe sie früh erfahren. Auch "die andere Seite" hat sie erlebt, sagt sie. 1992 wurde ihr erstes Kind mit Down-Syndrom geboren und nur knapp ein Jahr alt. Die Verantwortung, sich weiter zu engagieren, wirke bis heute nach. Sie hat noch drei Kinder geboren, ein Sohn starb mit 17 Jahren an schwerer Krankheit.

"Mein jüngster Sohn wusste gar nicht, wie das ist, ein Sommer ohne OBA"

Die Begegnung mit Menschen mit Behinderung gehört in der Familie Schwaiblmair schon immer selbstverständlich zum Alltag. Jedes Jahr ging es mit den Kindern zwei Wochen lang in den Sommerurlaub mit der Offenen Behindertenarbeit: "Mein jüngster Sohn wusste gar nicht, wie das ist, ein Sommer ohne OBA", sagt Schwaiblmair. Noch immer organisiert sie einmal in der Woche eine integrative Spiel-und-Sport-Gruppe in Gräfelfing und trainiert an einem Abend eine Badminton-Inklusionsmannschaft, manchmal kommt ihr Mann mit, manchmal auch der Sohn. Bis vor kurzem gehörten beide Sportangebote unter das Dach der OBA, inzwischen hat der TSV Gräfelfing sie in sein Angebot integriert, ein großer Erfolg für Schwaiblmair. Menschen mit und ohne Behinderung machen im selben Verein Sport, genau so soll es sein, findet sie.

Frauke Schwaiblmair will jetzt etwas kürzertreten. Nur Bezirksrätin möchte sie bleiben und 2023 nochmal kandidieren. Sie ist noch nicht fertig, sie braucht das politische Amt, um ihren ehrenamtlichen Auftrag voranzutreiben. "Wir müssen mehr Begegnungsmöglichkeiten schaffen", heißt ihr Ziel, nämlich Menschen mit und ohne Behinderung zusammenbringen. Für das neue Jahr hat sie sich fest vorgenommen, Menschen mit Behinderung noch mehr in die örtlichen Vereine zu integrieren.

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