Süddeutsche Zeitung

Arbeitswelt:Dem Alltag der Arbeiter auf der Spur

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Das Archiv der Arbeiterbewegung sammelt Zeugnisse aus dem Leben von Fabrikarbeitern. Es verhindert so, dass die Erinnerung an ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte ausgelöscht wird.

Von Wolfgang Görl

Es sind nur ein paar Fotos aus dem Familienalbum, eine Handvoll privater Erinnerungsstücke. Aber wenn man genau hinschaut, wenn man Zusammenhänge herstellt und Schlussfolgerungen zieht, dann erzählen sie eine Geschichte, die über das Private weit hinausgeht. Da sind die Bilder der Bauerntochter Makbule Kurnaz, geboren 1950, aufgewachsen an der türkischen Schwarzmeerküste.

1972 kam sie als sogenannte Gastarbeiterin nach München. Auf einem der alten Fotos ist zu sehen, wie sie stolz vor dem Siemens-Gebäude am Thomasiusplatz steht, wo sie seinerzeit Mikrochips zu löten hatte. Damals lebte sie in einem Wohnheim zusammen mit drei anderen türkischen Mädchen. Die Arbeit war nicht sonderlich schwierig und doch anstrengend, denn sie musste den ganzen Tag stehen.

Später, während eines Urlaubs in der Heimat, hat sie auf Druck ihrer Familie heiraten müssen. Auch ihr Mann heuerte bei Siemens an. Kinder kamen, zwei Söhne. Makbule Kurnaz posiert mit ihnen vor der Kamera, wie das alle Mütter tun. Anfang der Neunzigerjahre, Siemens war mal wieder in der Krise, verlor sie ihren Job. Ihr Mann ist in die Türkei zurückgekehrt, sie aber blieb. War Kassiererin bei Schlecker, bei Plus, beim Kaufhof. Sie sagt: "Ich bin Münchnerin. Meine Kinder sowieso."

Die Geschichte der Makbule Kurnaz ist wie die Lebenswege anderer türkischer Arbeitsmigranten in einer Wanderausstellung dokumentiert, die das Archiv der Münchner Arbeiterbewegung zusammengestellt hat. Die Bilder erzählen, wie Menschen aus einem anderen Land in Deutschland, in München, ihr Glück gesucht haben, sie erzählen von Erfolgen und Rückschlägen, von Freude und Verzweiflung, von Lebensentwürfen, die mal gut gingen und mal scheiterten.

Aufregend ist so ein Leben nur für diejenigen, die es leben müssen; die Öffentlichkeit nimmt in der Regel davon wenig Notiz. Aber was, wenn diese Spuren einfach verwehen würden? Wenn es nichts mehr gäbe, was an die Schicksale der "Gastarbeiter" erinnerte? Ein wesentliches Kapitel deutscher Sozialgeschichte wäre ausgelöscht. Dass dies nicht geschieht, hat sich das Archiv der Münchner Arbeiterbewegung zur Aufgabe gemacht.

Und dabei geht es nicht allein um Migranten. Das Archiv ist bestrebt, wie Ingelore Pilwousek, die 2014 gestorbene einstige Vorsitzende, einmal geschrieben hat, "Überlieferungen der Arbeiterkultur zu sammeln und Zeitzeugen zu befragen". Unter anderem geht es darum, die Alltagskultur der Arbeiterinnen und Arbeiter, der "kleinen Leute", auszuleuchten und zu erforschen.

Es ist genau 30 Jahre her, dass einige Aktivisten aus dem Umfeld der Arbeiterbewegung das Archiv gegründet haben. Den Anstoß dazu hatte die Ausstellung "Empor zum Licht - Arbeitersänger und Arbeitersportler in München vor 1933" gegeben, organisiert vom Kulturreferat und dem DGB-Kreis München im Jahr 1987.

Im Gefolge der Achtundsechziger-Bewegung war das Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung beträchtlich gestiegen, und zwar nicht nur an den Universitäten. Auch auf dem nichtakademischen Feld richtete man den Blick sozusagen nach unten. Geschichtswerkstätten entstanden, die sich um die Alltagskultur und die lokale Historie kümmerten.

Was die Ausstellungsmacher damals bewegte, schildert der Maler und Autor Günther Gerstenberg in einer Broschüre des Archivs: "Als die Ausstellung vorbei war, wussten wir nicht, wohin mit dem Material, darunter viele wertvolle Dinge, Fotos, Fahnen, Abzeichen, Krüge, Noten, Flugblätter. Wir haben uns gesagt, wenn wir das alles zurückgeben, verstaubt's in irgendwelchen Kellern oder Schränken." Also entschloss man sich, einen Verein zu gründen, der die Hinterlassenschaften der Arbeiterkultur archivieren, pflegen und präsentieren soll.

"Fundstücke, welche die Arbeitswelt dokumentierten, sind uns besonders wichtig", sagt der Historiker Ludwig Eiber, der Zweite Vorsitzende des Archivs. Aber gerade solche sind schwer zu finden, weil der "innerbetriebliche Bereich in der Regel Tabuzone ist". Eiber erzählt dies beim Gang durch das Depot, das sich im Keller eines Bürogebäudes in der Haderunstraße befindet.

Lange Regalreihen füllen den 400 Quadratmeter großen Raum, der zahllose Leitz-Ordner, Schachteln, Kästen, Zeitschriften oder Bücher birgt. Aus einem der Regale fischt Eiber eine graue flache Schachtel heraus, auf deren Aufkleber steht: "Otto Graf. Berichte, Arbeiten, Aufsätzen." Graf, geboren 1892 in Zamdorf, trat 1919 der Kommunistischen Partei bei, die ihn nach zwei Jahren wieder hinauswarf, woraufhin er sich der SPD anschloss. Er war Mitglied des Bayerischen Landtags und wurde von den Nazis mehrmals inhaftiert.

Nach dem Krieg saß er für den Wahlkreis München-West im Bundestag. Die Dokumente im Archiv der Arbeiterbewegung stammen aus seinem Nachlass. Jede Menge vergilbte Zeitungsseiten birgt die Mappe, Kommentare und Berichte, die Graf in den Zwanzigern für die diverse Publikationen geschrieben hat - erhellende Beiträge eines Zeitzeugen aus der Zeit, als sich die Linke der Weimarer Republik gespalten hat.

Immer wieder kommt es vor, dass private Nachlässe dem Archiv überlassen werden. Nicht alles ist brauchbar, aber, sagt Eiber, persönliche Hinterlassenschaften wie Briefe, Aufzeichnungen, Fotoalben oder Filme können sehr nützlich sein, wenn es gilt, das Leben von Arbeitern und die Arbeitswelt zu rekonstruieren. Generell ist die Kultur der Arbeiterklasse ja weitaus weniger gut überliefert als die Kultur, die einstmals der Adel und später das Bürgertum geprägt haben. Man muss viele Schnipsel zusammentragen, um ein erkenntnisförderndes Bild zu erhalten.

So finden sich im Archiv Mitgliedsbücher von Parteien und Gewerkschaften, Lohnzettel, Plakate zum 1. Mai oder zu Wahlen, Notenbücher von Arbeiterchören, Flugblätter der Friedensbewegung, Materialen der Freien Turnerschaft, Fotos der Arbeiter-Kaukasus-Expedition von 1932, Fahnen des "Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold" aus der Weimarer Republik, Bilder des Kommunistischen Jugendverbands aus den 1920er Jahren, Tonbänder mit Zeitzeugeninterviews, Schallplatten mit Arbeiterliedern, Postkarten, Demo-Transparente und vieles mehr.

Wer entlang der prall gefüllten Regale durch die Gänge spaziert, denkt im ersten Moment: So viel altes Zeugs, wie soll man da finden, was man sucht? Und zudem gibt es noch die Archivalien, die in der Geschäftsstelle in der Pasinger Ebenböckstraße lagern. Aber man findet sich schon zurecht, es ist ja alles wohlgeordnet und beschriftet. Das ist schon deshalb notwendig, weil die Archivmitarbeiter aus diesem Fundus ihre Ausstellungen bestücken.

Der Burgfrieden spaltete die Arbeiterbewegung

Diese richten den Fokus auf jene Menschen, die eher zu den Opfern der Politik zählen, als zu deren Gestaltern. Die Arbeiter im Ersten Weltkrieg beispielsweise, denen die nationalen Eliten des Kaiserreichs weisgemacht hatten, das friedliebende Deutschland sei von Frankreich, Großbritannien und Russland angegriffen worden - eine propagandistische Legende, welche die Bereitschaft erhöhen sollte, für Kaiser und Vaterland ins Feuer zu gehen.

2014, zum 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs, hat das Archiv die Ausstellung "Arbeiterbewegung und Erster Weltkrieg" konzipiert, die eindrucksvoll zeigte, wie der sogenannte Burgfrieden zwischen Kaiserreich und Sozialdemokratie die Arbeiterbewegung mit fatalen Folgen spaltete. Und sie dokumentierte auch, dass es in München mutige Kriegsgegner wie den SPD-Jugendoffizier Felix Fechenbach, den späteren Sekretär Kurt Eisners, gab, die gegen die Burgfriedenspolitik opponierten - auch wenn sie auf verlorenem Posten standen.

Das Archiv ist so etwas wie das Gedächtnis der Münchner Arbeiterbewegung. Es will die Geschichte der arbeitenden Menschen und ihrer Organisationen vor dem Vergessen bewahren. Und häufig ist Eile geboten. Etwa, wenn es darum geht, die letzten Zeitzeugen des proletarischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu interviewen. Geschieht dies nicht, geht wieder ein Stück Geschichte verloren.

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Quelle:
SZ vom 04.07.2017
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