Süddeutsche Zeitung

Regierungsbildung:Willkommen im Jahr 2021, liebe Grüne

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Die Parteichefs Baerbock und Habeck reden kultureller Vielfalt stets das Wort. Und als es um Ministerposten geht? Versemmeln sie es und kommen mit einem Personaltableau wie aus den Fünfzigern daher.

Kommentar von Constanze von Bullion

Natürlich kann man sich jetzt aufregen über angebliche Migrantenquoten, einen Außenpolitiker als Bauernminister und die Schusseligkeit der Grünen. Kurz vor dem grünen Ja zur Ampel-Regierung ist in der Partei eine regelrechte Wirtshausschlägerei ausgebrochen. Fraktionschef Toni Hofreiter hat sich mit Ex-Parteichef Cem Özdemir um den Posten des Landwirtschaftsministers geprügelt und die Parteilinke mit den Realos. Das grüne Harmoniemobiliar der vergangenen Jahre ging zu Bruch. Und wenn schon. Herausgekommen ist die richtige Entscheidung. Endlich.

60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen der alten Bundesrepublik wird in Cem Özdemir zum ersten Mal ein Sohn türkischer Gastarbeiter Bundesminister in Deutschland. Das ist nicht nur eine historische Zäsur, sondern ein überfälliger Schritt. Die Nachkommen muslimischer Einwanderer stellen längst die wichtigste Minderheit im Land, sie wächst stetig. In etlichen deutschen Großstädten machen Eingewanderte mehr als 40 Prozent der Bevölkerung aus. Zugleich kämpfen viele von ihnen, quer durch alle Schichten, gegen Alltagsrassismus und das Vorurteil, nicht dazuzugehören. So kann, so darf das nicht bleiben.

Demokratie ohne Repräsentation der vielen ist keine

Wenn Deutschland aufschließen will zu anderen westlichen Industrienationen, in denen Diversität in Staat und höherer Verwaltung seit Jahrzehnten Alltag sind, müssen Özdemir-Gesichter in Spitzenämtern selbstverständlich werden. Denn Demokratie ohne Repräsentation der vielen ist keine. Über Jahrzehnte hat sich die Mehrheitsgesellschaft ängstlich verbarrikadiert hinter der Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Das war nicht nur wahrheitswidrig. Dadurch wurden schwere und unübersehbare Bildungsnachteile in migrantischen Milieus auf fahrlässige Weise vernachlässigt - und konnten so umso schneller wachsen.

Cem Özdemir ist einer, der es rausgeschafft hat aus einer migrantisch-schwäbischen Arbeiterjugend. Er dient nachwachsenden Generationen da jetzt als Sherpa. Ein türkischer Name kann einen Menschen an die Spitze des Staates begleiten, selbst nach schweren beruflichen Niederlagen, ist da die Botschaft. Sie ist wichtig. Unanfechtbar ist Landwirtschaftsminister Özdemir deshalb nicht - und leider auch kein Experte fürs Bäuerliche. Den Grünen sei schon mal viel Spaß gewünscht mit diesem Querkopf, der begabt, aber oft auch unversöhnlich ist. Er wird es nicht nur mit wütenden Landwirtinnen zu tun kriegen, sondern auch mit Parteifreunden vom linken Flügel. Sie sind stinksauer. Verständlicherweise.

Für den Robert, die Annalena, den Toni, die Steffi und die Anne hätte alles gepasst

Vermasselt nämlich haben die Sache mit den Ministerposten die grünen Parteivorsitzenden. Ausgerechnet Annalena Baerbock und Robert Habeck, die seit Jahren interkultureller Vielfalt das Wort reden, haben eben diese Diversität hintangestellt, als es um die Sicherung der eigenen Regierungsposten und die der engsten grünen Führungsriege ging. Die Regierungsressorts wurden so hinverhandelt, dass es für den Robert, die Annalena, den Toni, die Steffi und die Anne passte. Ein Team wäre das gewesen, weiß wie die Fünfzigerjahre, aber eben nicht vermittelbar im Jahr 2021. Der Krach kurz vorm Ziel war selbstverschuldet von den Grünen, die Personalplanung dilettantisch. Sie hat den qualifizierten Umweltpolitiker Toni Hofreiter um einen interessanten Job gebracht. Herzblut aber muss fließen, auch grünes, wenn dieses Land in der Gegenwart ankommen will. Es ist Zeit.

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