Süddeutsche Zeitung

England:Alles Wembley jetzt

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Die Nation feiert ihre Fußballerinnen. Manche sehen darin die Chance für gesellschaftlichen Fortschritt. Was man in der Euphorie halt so sagt.

Kommentar von Michael Neudecker

In der Euphorie der Nacht war - wie immer in solchen Momenten - viel die Rede davon, was nun alles anders wird. Es ist ja nicht nur so, dass die englischen Fußballerinnen am Sonntagabend ein Turnier gewonnen haben, indem sie ein Tor mehr geschossen haben als die Deutschen. Sondern, was noch wichtiger ist, dass ein beachtlicher Teil der Nation ihnen dabei zugeschaut und zugejubelt hat. 87 192 Zuschauer waren im ausverkauften Wembley-Stadion, zeitweise 17,4 Millionen Briten sahen das EM-Finale in der BBC, nie zuvor waren es so viele Menschen, die ein Frauenfußballspiel im Vereinigten Königreich verfolgten. Die Euphorie der Nacht ging am Tag danach noch weiter, am Montag feierten Tausende das Team am Trafalgar Square, und alle möglichen Figuren aus Gesellschaft und Politik übermittelten ihre Glückwünsche. Die Intonierung war stets ähnlich, am schönsten formuliert von der Labour-Abgeordneten Alison McGovern, die sagte: "Eine neue, fortschrittliche Seite wurde in den englischen Geschichtsbüchern geschrieben." Die Frage ist jetzt nur, wie schnell weitergeblättert wird.

Euphorie ist immer nur ein vorübergehender Zustand, sogar in England, wenn die Nationalmannschaft ein Finale gegen Deutschland gewinnt. Das letzte Mal kam das 1966 vor, damals gewannen die Männer die Weltmeisterschaft gegen Deutschland mithilfe des sogenannten Wembley-Tores. 1966 ist lange her. Damals durften Frauen in England überhaupt nicht auf Fußballplätzen spielen.

Was Boris Johnsons potenzielle Nachfolger gerade erklären

Nach dem Ersten Weltkrieg war Frauenfußball ein populärer Sport in England, es gab 150 Mannschaften, die Spiele wurden von Tausenden, oft Zehntausenden Zuschauern besucht. Wohl auch aus Sorge, die Frauen könnten den Status der Männer gefährden, verkündete der Verband im Dezember 1921, Frauen dürften künftig nicht mehr auf den Fußballplätzen der Vereine antreten. Es sei doch recht "unpassend" für sie, Fußball zu spielen, und es stelle ein medizinisches Risiko dar. Viele Fußballerinnen wanderten daraufhin in die USA aus und spielten dort, was wiederum zum Aufstieg des US-Frauenfußballs an die Weltspitze beitrug. Erst 1971 hob der Verband das Verbot auf, auf Druck des europäischen Fußballverbands.

Man mutet den Fußballerinnen nun womöglich zu viel zu, wenn man sie zu Symbolen einer progressiven britischen Gesellschaft im Jahr 2022 erklärt. Das Land ist nach dem Brexit-Votum und drei Jahren Boris Johnson gespaltener denn je. Johnsons potenzielle Nachfolger Liz Truss und Rishi Sunak geben sich gerade größte Mühe, der Tory-Basis zu gefallen, was sich mit gesellschaftlicher Progressivität kaum verbinden lässt. Sunak etwa kündigte an, das Gleichstellungsgesetz gegen Diskriminierung und Stigmatisierung prüfen zu wollen, das er als "Trojanisches Pferd für linke Aktivisten" beschreibt. Und dass Truss sich seit der skandalösen Supreme-Court-Entscheidung in den USA nicht zum Thema Abtreibung geäußert hat und sich bei Abstimmungen dazu oft enthielt, besorgt Frauenrechtsgruppen ernsthaft.

Der Weg, den die Fußballerinnen seit 1971 beschreiten, ist steil und steinig. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob die britische Gesellschaft nach dem Taumel der Euphorie bereit ist, den Weg weiter mitzugehen. Oder ob letztlich doch nur eine Erinnerung bleibt an eine schöne Sonntagnacht, in der sich das Land in den Armen lag, weil gerade Historisches passierte, etwas, das sich womöglich so bald nicht wiederholt: ein Sieg gegen Deutschland im Finale.

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