Süddeutsche Zeitung

"Anne Will" zu Chemnitz:"Das darf nicht der Preis der deutschen Einheit sein"

Lesezeit: 4 min

Für Wolfgang Thierse sind die Bürger Teil des Problems, Michael Kretschmer geht Journalisten an und Serdar Somuncu kritisiert Angela Merkel. Eine hitzige Runde über die Krawalle in Chemnitz.

TV-Kritik von Ruth Schneeberger

Dass der Ministerpräsident von Sachsen unter Druck steht, erkennt man daran, dass er Anne Will angreift: Sie sei "nicht nahe genug dran", um das Thema beurteilen zu können - gleiches unterstellt er dem Journalisten Olaf Sundermeyer. Beide hatten von Michael Kretschmer (CDU) wissen wollen, warum die Polizei mit den rechten Protesten nach einem Mord vor einer Woche in Chemnitz überfordert war. Die Moderatorin muss Kretschmer darauf hinweisen, dass Sundermeyer Rechtsextremismus-Experte ist und sich durchaus mit Fragen wie dem angemessenen Einsatz von Behörden gegen Demonstranten auskennt - sie bekommt den ersten großen Publikumsapplaus des Abends dafür.

"Chemnitz und die Folgen" hat die Redaktion den Polit-Talk in der ARD betont vorsichtig benannt - wohl um nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen, wo es schon brennt. Voller Feuer sind auch die Antworten der Gäste an diesem Abend.

Vor allem bei Kabarettist Serdar Somuncu. Bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, teilt er auch diesmal wieder aus: Ein großes Problem sei Merkels "Dekret" von 2015 gewesen: "Wir schaffen das." Weil sie nicht gesagt habe, was und wie es zu schaffen sei, und die Menschen nun das Gefühl hätten, dass ihnen das Problem über den Kopf wachse.

Wer ist schuld: Politik oder Bürger?

Das hat so ähnlich schon vor einer Woche FDP-Vize Wolfgang Kubicki formuliert und ist dafür kräftig gescholten worden. Aber Somuncu sagt noch mehr: Die Bundeskanzlerin habe "viel zu spät begriffen", dass den Menschen eher in ihren Heimatländern zu helfen sei und dass Deutschland besser darauf achten müsse, dass, wer zu uns komme, sich auch an deutsche Werte halten müsse. Und wer das sagt, dürfe nicht als Demagoge verschrien werden. Er bekommt den zweiten großen Applaus des Abends.

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) widerspricht energisch. Wer nicht wisse, wohin mit seinem Ärger und seiner Wut, trage als Bürger dennoch die Verantwortung, nicht mit Rechten zu marschieren und die Fehler nur in der Politik zu suchen. Die Vorgänge in Chemnitz hält er für einen "Anschlag auf die Demokratie". In Chemnitz kämen zwei Dinge zusammen: Die rechtsextreme Szene und "die Menschen, die ihre Wut dahin tragen", diese Mischung sei gefährlich. "Das darf nicht der Preis der deutschen Einheit sein."

Somuncu lenkt die Verantwortung noch einmal zurück auf die Politik: "Wenn wir uns Gedanken darüber machen wollen, warum die Menschen in Chemnitz so entzündbar sind und woher ihre Wut kommt, dann müssen wir auch über die Fehler reden, die gemacht wurden." Dazu gehöre eine während der Flüchtlingskrise von oben verordnete Willkommenskultur: "Alle mussten denken: Wir schaffen das." Dann seien auch Menschen nach Deutschland gekommen, die nicht nur gute Absichten hatten. Über die Folgen müsse man ganz offen reden dürfen. Die Frustration entstehe aus dem Gefühl, dass die Politik sich das nicht traue und deshalb Rechtsextremen das Feld überlasse. Dabei wolle er kein Statement gegen Flüchtlinge abgeben. Doch die Deutschen hätten offensichtlich das Gefühl, dass die Politik sich nicht um ihre Belange kümmere.

"Unerhörte Ungeduld der Menschen"

Thierse findet, Somuncu sei mit seiner Argumentation "den Rechtsextremen auf den Leim gegangen". Die Menschen hätten in Wahrheit andere Sorgen als die Flüchtlingspolitik: Pflege, Rente, Arbeitsplätze, die digitale Transformation. Doch anstatt diese zu adressieren, richteten sie ihre Ängste, "weil das fassbar ist, gegen die Fremden". Eine stark geöffnete Welt treffe plötzlich auf Menschen, die große Teile ihres Lebens ganz anders gelebt hätten, sagt Thierse: "Im Osten muss viel mehr gelernt werden, dass man selber für die eigenen Interessen demokratisch einsteht." Diese "Integrationsaufgabe" könne man nicht an die Politik delegieren. Er kritisiert "die unerhörte Ungeduld der Menschen, forciert durch Hetze", die gerade verhindere, dass man über viele Probleme rede. Auch Thierse erhält viel Applaus.

Für Verständnis für die Sachsen wirbt Petra Köpping (SPD). Die sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration habe ihren Job einst angetreten in der Annahme, für Frauen und Ausländer zuständig zu sein, doch die Bürger hätten sie eindringlich gebeten: "Integriert doch erst mal uns!" Hinter jeder Kritik an Flüchtlingen, die sie gehört habe, steckten mannigfaltige eigene Probleme, Verletzungen und Demütigungen. Stundenlang würden die Bürger berichten, wenn ihnen einmal jemand zuhöre. Von ihren vielen Kämpfen in den vergangenen bald 30 Jahren seit der Wiedervereinigung - um Arbeit, Lebensziele, Anerkennung. Sie fragt: "Wer nimmt diese Menschen mit, wenn der einzige in der Familie, der morgens aus dem Haus geht, das Kind ist, das zur Schule muss?"

Rechtsextremismus zu lange verdrängt

Journalist Sundermeyer bestätigt, dass die Probleme in Sachsen zu stärkeren rechtsextremen Tendenzen geführt hätten als anderswo: "Natürlich ist der Rechtsextremismus ein gesamtdeutsches Problem, aber in seinem Selbstbewusstsein ist er im Osten und im Osten Sachsens besonders groß." Er lobt Kretschmer, der als Ministerpräsident einen neuen Umgang mit den Bürgern und auch gegen Rechte pflege. Zugleich kritisiert er: Kretschmer habe den Rechtsextremismus zuvor zehn Jahre lang mit der CDU "mitgetragen" und nicht wahrhaben wollen, "weil man keinen Schatten auf dem eigenen Land haben wollte". Dadurch sei das Problem noch größer geworden, denn "wenn man Dinge tabuisiert, wenn man sie nicht wahrhaben will, werden sie immer stärker".

So bleibt es an Kretschmer, die Sendung, die so ungut für ihn begonnen hat, zumindest noch halbwegs staatsmännisch zu beenden. "Das Entscheidende ist, dass man die Leute nicht vor den Kopf stößt, indem man sagt: Ganz Chemnitz ist rechtsextremistisch", sagt er. Und fordert mit den anderen Gästen einen engagierten Zusammenschluss von Kirche, Politik und Bürgertum für ein demokratisches Deutschland: "Das müssen wir jetzt gemeinsam hinkriegen."

In Chemnitz sehen das wohl einige anders.

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