Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Vor Gericht:45 Briefe in 27 Monaten

Lesezeit: 2 min

Julian C. fürchtet sich vor Post. Vor allem, wenn sie von Behörden kommt. Das hat weitreichende Folgen.

Von Ronen Steinke

Das Jobcenter Berlin-Mitte ist der Meinung, einen Schmarotzer enttarnt zu haben. Das Jobcenter Berlin-Mitte ist recht oft dieser Meinung. Diesmal geht es um Julian C., 35 Jahre alt. Er soll bewusst betrogen haben, so lautet der Vorwurf. Damit habe dieser Mann, der wegen psychischer Probleme vor ein paar Jahren in die Arbeitslosigkeit abgerutscht ist, rechtswidrig 22 577,60 Euro erlangt.

Vor Gericht wirkt Julian C. ein bisschen wie ein unsicherer Teenager, er sitzt da mit sauber hinter dem Kopf zusammengebundenen blonden Haaren. Noch nie hat ihn jemand einen Straftäter genannt. Andere Schmähungen sind ihm vertrauter, zum Beispiel: Versager. Er komme mit seinem Leben "nicht besonders gut klar", gibt er vor der Richterin zu. Er hat mit Depressionen zu kämpfen, "leider bin ich ein Mensch, der sich vor Schreib- und Bürokratiekram drückt". Um das zu unterstreichen, holt sein Anwalt einen dicken Stapel Briefumschläge hervor und legt ihn auf den Tisch.

Was für ein Berg: 45 Briefe aus den vergangenen 27 Monaten. Sie sind alle ungeöffnet. Julian C. fürchtet sich vor Post. Ganz gleich, ob sie von Banken, Behörden oder Versicherungen kommt. Vor Gericht erlebt man das häufig, dass Menschen schon damit zu kämpfen haben, ihren Alltag zu regeln. Manche finden sich nicht zurecht, schämen sich aber auch für ihre Unwissenheit. Andere haben auch Sprachprobleme. Besonders, wenn es um Behördensprache geht. "Ich möchte mich entschuldigen", sagt Julian C.

Die Staatsanwaltschaft meint, Julian C. solle mal nicht so naiv tun

Seine Geschichte: Nachdem er seinen Job als Arbeiter in einer Möbelfabrik verlor, beantragte er Hartz IV. Ihm war dabei nicht bewusst, dass sein Großvater einst einen Fonds für ihn angelegt hatte, 30 000 Euro für schlechte Zeiten. Als er das erfuhr, war er ratlos: Was heißt das? Ein Fonds? Später hat er sich gefreut über das Geld - und dem Jobcenter alles zurückgezahlt, jeden Cent. Hartz IV, Wohngeld und Heizkosten, zusammen etwa 900 Euro im Monat.

Die Staatsanwaltschaft meint, Julian C. solle mal nicht so naiv tun, das sei alles volle Absicht gewesen, da seien schließlich auch allerlei Hartz-IV-Formulare, die er nicht ordentlich ausgefüllt habe, zum Beispiel die "Anlage VM, Blatt 14". Deshalb: Angemessen seien elf Monate Freiheitsstrafe zur Bewährung. Julian C. wird blass: "Ich habe zugegeben, dass es in meinem Leben nicht so rund läuft, das ist schambesetzt für mich vor fremden Leuten. Und dann wird mir gesagt: Du machst das auch noch böswillig."

Kurze Pause. Er geht raus auf den Gang, starrt auf den türkisfarbenen Teppich. Als man ihn anspricht, läuft er rot an. "Tut mir leid, dass Sie extra kommen mussten wegen mir." Dann spricht die Richterin ihn frei. Er ist nämlich gar kein Straftäter.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.

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