Süddeutsche Zeitung

Graffiti in Berlin:Gegen die Wand

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Aus der ganzen Welt kommen Sprüher, um in Berlin ihre oft illegalen Werke zu hinterlassen. "Reclaim your City" ist das Motto: "Hol Dir die Stadt zurück!" Die Politiker schimpfen, doch die Tourismusbranche frohlockt. Für sie verkauft sich Graffiti gut.

Florian Fuchs

Zwei Figuren, die aus entgegengesetzten Richtungen kommen. Die eine steht kopf, die andere normal. Beide strecken die Hände aus, langsam demaskieren sie einander. Die Finger der jeweils freien Hand formen die Figuren zu einem E und zu einem W. Es sind die US-Zeichen für Eastside und Westside, für Ost und West. Gleich um die Ecke der Fassade, an der das Graffito prangt, ist früher die Mauer verlaufen - mitten durch Kreuzberg.

Vier Jahre ist es her, dass der italienische Graffitikünstler Blu dieses Bild an eine 21 Meter hohe Hauswand in der Kreuzberger Cuvrystraße gemalt hat. Das Motiv, ein Statement zum Wandel der ehemals geteilten Stadt, ging um die Welt. Heute gilt das Bild als Symbol für Berlins Status als Hauptstadt der Street Art. In keiner anderen Metropole ist die Graffitikultur so lebendig, gibt es so eine Vielfalt an bemalten, besprühten und beklebten Fassaden und Mauern. Reclaim your city ist das Motto: Erobere die Stadt zurück - gegen langweilige Städteplaner, gegen graue Betonbauten.

Gerade in Friedrichshain-Kreuzberg scheint das Motto aufgegangen zu sein, zwischen Schillingbrücke und Elsenbrücke sind viele Wände bunt. Die Stadt wird zur Galerie. Dabei stehen lange nicht mehr die bemalten Mauerstücke an der East Side Gallery in der Mühlenstraße im Blickpunkt. Neben den großen Bildern auf den großen Wänden, wie sie etwa Blu - mit dem Londoner Banksy der weltweit wohl bekannteste Graffitikünstler - gemalt hat, zeichnet sich die Street Art durch vielfältige Formen aus. Es gibt kleine Pieces, das sind meist knallbunte Graffitibilder. Es gibt Tags und Bombings, also nur rasch gezeichnete, schnell und unsauber an die Wand gezogene Schriftzüge mit versteckten Botschaften. Und manche kratzen ihre Figuren einfach in die Hauswände, wieder andere kleben Sticker an Fassaden. Nur wenige Werke entspringen ordentlichen Aufträgen, oft arbeiten die Sprayer und Writer deshalb nachts. Meist verzieren sie die Mauern illegal.

Die Polizei beschäftigt deshalb Sonderermittler, Politiker schimpfen über Schmierereien an den Hauswänden. Dabei geht Berlin mit der Street Art ganz offiziell hausieren, auf ihren Tourismusseiten im Internet wirbt sie sogar mit der Kunst im öffentlichen Raum. Schnell und innovativ seien die Künstler, wie die Stadt eben, steht da. Ein Streifzug durch Berlins Straßen lohne sich, heißt es auf visitberlin.de.

Aus der ganzen Welt kommen Künstler

Die Aufmerksamkeit für Street Art wächst immer mehr", sagt Lutz Henke. Graffiti gibt es zwar schon seit Jahrzehnten in Berlin, früher aber galten andere Metropolen als Europas Street-Art-Zentren: Barcelona und Amsterdam beispielsweise, auch Paris. Als Kurator Henke vor zehn Jahren die ersten Ausstellungen zu Graffiti in Berlin organisierte, interessierte sich kaum jemand dafür. "Heute ist das ganz anders", sagt Henke. Vor allem seit 2007 das erste Mal Blu in der Stadt gemalt hat, beobachtet der Kurator ein steigendes Interesse.

Wenn Lutz Henke zu seiner Galerie in der Cuvrystraße durch Kreuzberg fährt, sieht er wöchentlich neue Graffiti, neue Plakate und neue Botschaften an den Wänden. "New York ist immer noch groß in der Szene, Los Angeles und São Paolo sind wichtig. Aber kaum eine Metropole ist so präsent wie Berlin", sagt er. Berlin nämlich hat einen Vorteil: Noch immer gibt es gerade im Osten der Stadt so viele Freiflächen wie in kaum einer anderen großen Metropole. Um die vielen Wände zu bemalen, kommen Künstler extra aus den USA und auch aus Brasilien angereist. Und natürlich gibt es zahlreiche Berliner, die aktiv sind. "Viele sind Kunststudenten, aber eigentlich zieht es sich quer durch alle Berufe", sagt Henke.

Allerdings hat Berlin keinen Künstler, der mit seinen Arbeiten alle anderen in der Stadt übertrumpft. Paris hat JR, der vor allem durch seine Fotokunst bekannt wurde und mit Blu bei dem Graffito in der Kreuzberger Cuvrystraße zusammengearbeitet hat. London hat Banksy, São Paolo die Zwillinge Os Gêmeos. "In Berlin gibt es so viel Platz, da pushen sich alle gegenseitig, deshalb ist das Niveau sehr hoch", sagt Henke. "So etwas wie ein Platzhirsch hat sich also noch nicht durchsetzen können. Aber dafür gibt es viel Verschiedenes zu entdecken." Ein Streifzug lohnt sich also tatsächlich, gerade durch Kreuzberg.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2011
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