Süddeutsche Zeitung

Favoriten der Woche:Profunde Berserker

Lesezeit: 4 min

Die grandiose Filmfigur Adja, eine Lesung mit Ben Becker, ein wichtiger Film mit Mila Kunis, eine Tiktok-Kritikerin und das neue Album des Pianisten Krystian Zimerman: fünf Empfehlungen der Woche.

Von Aurelie von Blazekovic, Helmut Mauró Philipp Stadelmaier Egbert Tholl und Susan Vahabzadeh

"Apokalypse": Ben Becker liest Joseph Conrads "Herz der Finsternis"

Ben Becker ist einer der profundesten Berserker im deutschen Schauspielgeschäft. Das gilt normalerweise auch, wenn er nur etwas vorliest. Die Bibel etwa, mit der war er auf Tour, zusammen mit Band und Orchester. Jetzt tourt er wieder, durch mindestens 30 Städte, liest Joseph Conrads Roman "Herz der Finsternis", und man erwartet: irgendwas wie Francis Ford Coppolas Film "Apokalypse Now", Marlon Brando, totale Entäußerung. Und dann trifft man zur Premiere im Münchner Prinzregententheater auf einen zärtlichen Riesen, der sich scheu und ganz allein in den Text hineinbegibt. Kein Theater, äußerste Konzentration. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Videokamera. Und ein irrer Sog hinein in die Dunkelheit menschlicher Existenz. Als hielte Becker dem Zuschauer einen grässlich wahren Spiegel vor. Doch "Apokalypse" schlägt am Ende die Fratze in Stücke. Egbert Tholl

Kein Opfer: Die Figur Adja im Film "Horizont"

Adja arbeitet in einem Pflegeheim und weiß noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Ihre Freundin ist Influencerin und ihr Bruder Fußballprofi, die Hoffnung der Familie. Nach und nach verwandelt sie sich aber in eine Umweltaktivistin. Der Liebe wegen, aber auch, weil die Probleme real sind: Während in Paris die Bulldozer der Polizei anrollen, um das Lager der Aktivisten niederzureißen, rückt Adjas Verwandtschaft in Westafrika der steigende Meeresspiegel zu Leibe.

Die ökologischen Diskurse des Films "Horizont" von Emilie Carpentier sind hölzern und didaktisch. Dennoch erlauben sie es der schwarzen Hauptfigur eines französischen Films mal was anderes zu sein als nur Ausdruck einer soziokulturellen Identität und Opfer von Rassismus, Diskriminierung und Polizeigewalt. Filme wie "Dheepan", "Les Misérables" oder die diesjährige Netflix-Produktion "Athena" machen die Banlieues regelmäßig zu Kriegsschauplätzen, während arabische und schwarze Figuren in Mainstreamkomödien ("Weinprobe für Anfänger", die "Monsieur Claude"-Filme) noch immer die Rolle der "Anderen" spielen müssen, um sich dann doch als "gute" (sprich gut integrierte) Franzosen zu erweisen.

Adja ( Tracy Gotoas) hingegen ist zunächst einfach Teil des Alltags und ihrer Community, wenn sie Rollenspiele macht, Fußball schaut und in Bars geht, sich bei ihrem Job langweilt oder sich über die komischen Leute im Camp der Umweltschützer amüsiert.

Und dann ist da noch dieser schöne Moment der Freude und familiären Intimität. Nach einem Streit mit ihrem Bruder und ihrer Freundin - die beiden haben begonnen, sich zu daten - sind sie zu dritt in der Küche der gemeinsamen Wohnung, während Adjas Mutter aus Afrika anruft und sich erkundigt, wie es allen geht. Sofort hellt sich die Stimmung auf, Adja macht am Telefon Witze und Andeutungen über die Freundin und den Bruder, die verlegen und lachend danebenstehen.

Gerade das Jugendliche, Diffuse, manchmal auch Gelangweilte (und, ja, Langweilige) des Charakters macht Adja so interessant, weil sie auf diese Weise der üblichen Stigmatisierung entzogen wird. In Zukunft bitte mehr davon. Und klar, demonstrieren gehen ist natürlich auch wichtig, sowieso. Philipp Stadelmaier

Bröckelnde Fassade: Mila Kunis in "Ich. Bin. So. Glücklich."

"Ich. Bin. So. Glücklich" ist eine auf den Kopf gestellte Cinderella-Geschichte: Ani (Mila Kunis) hat's geschafft, sie lebt in einem Luxusappartement in Manhattan, wird demnächst einen Sohn aus reichem Hause heiraten und ihren Job bei einem Magazin gegen einen bei der New York Times eintauschen. Aber irgendwas stimmt nicht mit ihr. Als sie kontaktiert wird, um ein Interview zu geben, rollt sich in Rückblenden auf, warum. Sie war Opfer einer Gruppenvergewaltigung, und alle um sie herum fanden, sie hätte halt nicht trinken dürfen. Damit nicht genug, an der Schule gab es ein Massaker, und auch daran soll sie schuld sein. "Ich.Bin.So.Glücklich" erzählt nun vom Rückbau der harten Schale, hinter der Ani sich versteckt - und Mila Kunis spielt diese Frau hinter der bröckelnden Fassade großartig. Ein perfekter Film ist die Netflix-Verfilmung von Jessica Knolls Bestseller von 2015 trotzdem nicht - aber einer über das sogenannte Victim Blaming, und die sind selten. Susan Vahabzadeh

Wastarasagt: Tiktok-Kritikerin Tara-Louise Wittwer

Auf Tiktok, das kann man ja mal sagen, gibt es neben tollen Sachen sehr viel Mist. Selbsterklärte Datingcoaches zum Beispiel, die zweifelhafte Weisheiten zum Thema "So ticken Männer, so ticken Frauen" in den Algorithmus blasen. Die Berlinerin Tara-Louise Wittwer hat selbst auf Tiktok 260 000 Follower gesammelt, in dem sie deren Content auseinandernimmt. So, zum Beispiel: Ein oberkörperfreier Glatzkopf marschiert in Selfieaufnahme vor Palmen und sagt: "Guck mal, weißt du, was die Natur der Frau ist?" Gegenschnitt: Tara verzieht den Mund. Er: "Sie braucht einen starken Alphamann, ist halt so." Tara: "Ist nicht so." Und so weiter. Aber keine Sorge, Wittwers Account ist kein Boxring der aufgeklärten Feministin im Kampf gegen Alphamänner. Es geht auch um die im Netz ausgelebte Misogynie von Frauen, die über "arrogante Weiber" schimpfen. Wenn schon Mist konsumieren, dann bei Tara. Oder wie die Autorin Stefanie Sargnagel schreibt: "Die einzige influencerin die ich respektiere is Tara." Aurelie von Blazekovic

Krystian Zimerman mit Klavierwerken von Szymanowski

Der polnische Pianist Krystian Zimerman gehört zu jener immer ein wenig anachronistisch anmutenden Künstlerspezies, die sich möglichst rarmacht. Weniger wohl aus Allüre als aus einer natürlichen Scheu vor der Öffentlichkeit. Man kann ihn immer mal wieder live hören, aber am wohlsten fühlt er sich offenbar im Studio. Und noch lieber scheint ihm die Mischform aus beidem zu sein: die Aufnahme im Konzertsaal. Seine Einspielung von Claude Debussys "Préludes" von 1994 aus der Stadthalle Kassel oder die Schubert-Sonaten von 2016 aus dem Performing Arts Centre der japanischen Stadt Kashiwazaki bleiben im Gedächtnis.

Auf seinem neuen Album " Karol Szymanowski: Piano Works" (DG) widmet er sich seinem 1937 verstorbenen Landsmann mit der gewohnten Akribie, die bei Zimerman ja niemals nur den fingertechnischen Anteil betrifft, sondern in weit größerem Maße eine musikalisch-emotionale Komplexität, deren einziges Ziel es ist, dem Hörer jene Überraschungen und Wiedererkennungsmomente zu bieten, die ihn in einen Zustand emotionaler Gespanntheit bringen. Das bedeutet nicht durchweg unruhiges Erwarten, viel öfter aber Gelassenheit und neugieriges Verstehen. Mit unvoreingenommenem Hinhören allein ist es oft nicht getan, das ist aber schon mal eine gute Voraussetzung. So auch bei den zwischen Hochromantik und Impressionismus changierenden Stücken von Szymanowski. Der legendäre Pianist Arthur Rubinstein lokalisierte ihn zwischen Chopin und Skrjabin, bescheinigte ihm allerdings auch eine kraftvolle, originelle Persönlichkeit. Und dabei bezog er sich keineswegs nur auf ein reifes Spätwerk.

Die Préludes Nr. 7 und Nr. 8, die auf dieser CD auch zu hören sind, komponierte Szymanowski bereits im Alter von 14 Jahren, und sie beeindruckten Rubinstein nicht weniger. Es ist ja ein Phänomen großer Künstler - Komponisten wie ausführender Instrumentalisten -, dass sie oft in jungen Jahren Werke schaffen, deren unmittelbaren Ausdruck sie später nur mit großer Mühe wieder erreichen. Sowohl Szymanowski wie auch Zimerman scheinen nach diesem frühen Zustand unbefangener Intensität zu suchen und sich darin über die Zeit hinweg sehr nahezukommen. Helmut Mauró

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